Revolution für das Leben
Vom Beherrschen zum Zerstören ist es kein weiter Weg.
Eva von Redeckers Kritik des Kapitalismus beginnt dort, wo ein Stück Welt eingekreist wird. Eingeschlossen. Abgegrenzt. Die Geburt des Eigentums aus dem Geist der Herrschaft. "Sachherrschaft" nennt Eva von Redecker dies; die Eingrenzung erst macht das dem Leben, der Natur, der Welt förmlich entrissene Eigentum kontrollierbar, bringt es in die Verfügungsgewalt des Eigentümers – und gibt ihm gleichzeitig die Lizenz, mit seinem Eigentum zu tun, was er möchte. Redecker wittert in dieser Urszene des Kapitalismus sogleich die Blaupause für das Selbstbild des modernen Bürgers.
Kapitalistische Wirtschaft bricht in die raffinierten und überquellenden Kreisläufe natürlicher Regeneration mit zwei brachialen Gesten ein:
der Verfügung über Eigentum und der Unterscheidung von Waren (Profitversprechendem) einerseits und Ausschuss (nicht Verwertbarem) andererseits. Dieser Vorgang lässt sich auf Land, auf Dinge, auf Menschen, ja auch auf sich selbst anwenden – und bildet, im Zweifel in seiner Schrumpfform als "Phantombesitz", nicht nur die Grundlage kapitalistischen Wirtschaftens, sondern in den Augen der Philosophin auch den Grund für die zahlreichen Krisen, denen sich die globale Menschheit Anfang des 21. Jahrhunderts gegenübersieht. So leben wir. Und, möchte man hinzufügen: So sterben wir, wenn sich nichts ändert.
Wir eigentlich freien Menschen sind gefangen in Sachzwängen, abhängig von Lohnarbeit, sortiert nach Identitäten und ständig gestresst.
Doch wie weiter?
Dass sich etwas ändern muss, wissen ja scheinbar mittlerweile fast alle. Wo die Lösungen für unsere Probleme liegen, wie grundsätzlich Änderungen sein müssen, wie schnell sich was ändern muss, und was die Gesellschaft bzw. die einzelnen Menschen an Zumutungen und Entbehrungen vertragen – da gehen die Meinungen weit auseinander. Fast gleich, ob es um Globalisierung, Migration, Gender-Fragen, Klimawandel oder Corona-Pandemie geht.
Erschwerend kommt hinzu, dass ja doch alles miteinander zusammenhängt. Bücher zur aktuellen Lage (von Harald Welzer bis Cyril Dion) finde ich daher oft deprimierend. Auf je nach Fokus mehr oder weniger überzeugende Problembeschreibungen erfolgen entweder so allgemein-grundsätzliche Lösungsvorschläge, dass ich mich (und den Rest der Menschheit) einfach nur maßlos überfordert wähne. So ging es mir etwa bei der Kurzen Anleitung zur Rettung der Erde von ER-Vordenker Cyril Dion. Oder es folgen so spezifische, kleinteilige Lösungsvorschläge, dass mir das zu wiederum einfach scheint. Kurz: Denkschriften darüber, wie die Welt zu ändern ist, haben mich bisher nur selten überzeugt.
Retten, Re-Generieren, Teilen und Pflegen
Wir müssen leben können, ohne dabei einander und die Welt zu zerstören und zu verlieren.
Der in einer brandenburgischen Kommune lebenden Philosophin Eva von Redecker nun glückt in ihrer Philosophie der neuen Protestformen ein Zirkelschluss: Ausgehend vom Eigentumsbegriff folgt sie der Verwertungs- und Verwüstungslogik des Kapitalismus (Güter, Arbeit, Leben) bis in seinen Kern, dorthin, wo er "Leben zerstört". Die zentrale Achse des spiegelbildlich aufgebauten Buches allerdings ist der Begriff der "Revolution": die gemeinsame, umsichtige, ermöglichende Wiederaneignung der Welt. Die Botschaft: Grundlegender Wandel ist möglich. Denn er findet – in den Zwischenräumen – schon statt.
"Utopien, die darauf angewiesen sind, dass man sich die Welt erst mal wegwünscht, sind falsch."
Die Revolution für das Leben ist für Redecker eine "stetige, tagtägliche Übung", deren erste (Vor-) Formen sie im zweiten Teil des Buches anhand von aktuellen Protestformen beschreibt. Wie sich Leben retten, Arbeit re-generieren, Güter teilen und Eigentum pflegen lassen, untersucht sie anhand etwa von Black Lives Matter, Extinction Rebellion, der feministischen Protestbewegung Ni una menos, Fridays for Future oder Ende Gelände. Bewegungen, die, so Redecker, "für die Aussicht auf geteiltes, gemeinsam gewahrtes und solidarisch organisiertes Leben" kämpfen. Dabei ist für sie nicht nur der Gegenstand des Protestes von Interesse, sondern vor allem Organisationsformen und soziale Praktiken.
Lust auf die Möglichkeit eines anderen Lebens
Dem "Aufstand der Lebenden gegen die Lebenszerstörung" anhand konkreter Erfahrungen folgend, kehrt sie so die dem ersten Teil zugrunde liegende Zerstörungslogik des Kapitalismus nicht nur symbolisch um – sie macht Lust auf die Möglichkeit eines anderen Lebens, Arbeitens, Wirtschaftens. So gelingt, was sie im Interview mit Tilo Jung (Jung & Naiv) als Ziel beschreibt: Sehnsüchte zu wecken – Sehnsüchte "nach einer Welt, in der alle atmen können".
Alles ist allen anvertraut. Alle sind einander anvertraut. Alles existiert gemeinsam. Alles, was wir brauchen, ist da.
Eva von Redecker schrieb dieses Buch im Ausnahmezustand der Corona-Pandemie 2020, die natürlich im Buch ihre Spuren hinterließ. Gleichzeitig macht die anhaltende prekäre Lage, auf die Politik und Wirtschaft zunehmend angemessene Antworten vermissen lassen, auch den Boden fruchtbar für diese weitreichenden aber praxisnahen Gedanken.
Ich glaube, es gibt eine neue Erfahrung des entfesselten, aus der Systemkonkurrenz befreiten Kapitalismus und merkliche Änderungen durch die einsetzende Klimakatastrophe. Der Ausnahmezustand durch die Pandemie ist im Grunde nur ein Schauplatz innerhalb der großen Katastrophe im Naturverhältnis. Wir sehen uns in unseren begüterten Lebensrealitäten mit der Zerbrechlichkeit des Lebens konfrontiert,
so die Autorin im Interview mit dem Standard.
Was im Umgang mit dem Virus bislang nur unbefriedigend gelang, wie gelingt es im Umgang mit älteren und fortdauernden Herausforderungen wie Migration, globaler Ungleichheit und Klimawandel? Können, wollen wir weiter so arbeiten, leben, wirtschaften – auf dem Rücken anderer, auf Kosten unserer Beziehungen, ohne Rücksicht auf unser Leben und das der uns folgenden? Kaum ein wichtigeres Buch in dieser Zeit, das mit durchaus dramatischer Sprache, authentischen Erfahrungen und unverhohlener Dringlichkeit aufrüttelt.