Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland
"Ich maße mir nicht an zu behaupten, ich würde die Bedeutung des Ödlands verstehen oder auch nur wissen, ob es überhaupt eine Bedeutung hat..."
Diese Zeilen stehen am Ende der Reise: nach 10.000 Zugkilometern und 400 Seiten, die von Peking nach Moskau führen – quer durch das mysteriöse, von riesigen Mauern umschlossene Ödland, das die Großreiche China und Russland voneinander trennt. Auch das 19. Jahrhundert endet, und das 20. Jahrhundert wird begrüßt. Soweit die die zeitlichen und räumlichen Dimensionen dieses fesselnden Debütromans von Sarah Brooks.
Das Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland soll es nach Maßgabe dieses alles in allem ziemlich unverlässlichen Romans tatsächlich gegeben haben; verfasst wurde es von einem gewissen Valentin Rostow, erschienen ist es – laut Roman – 1880 in Moskau. Das In-die-Irre-Führen, der kreative Umgang mit Fakten, das Spiel mit der Verlässlichkeit der Realität ist Programm und Thema dieses Abenteuerromans. Denn der Reiseführer, der manchem Reisenden im Roman tatsächlich als Handbuch oder gar Anlass für die Reise dient, beschreibt eine Zugfahrt, an die zu diesem Zeitpunkt in Wirklichkeit bestenfalls zu denken gewesen sein mag: der Bau der Transsibirischen Eisenbahn begann erst 1891. Jener "unvorsichtige Reisende" namens Rostow kann dafür jedoch nicht mehr verantwortlich gemacht werden: Er verschwand nach Erscheinen seines Buches unter mysteriösen Umständen. Auch ein Grund dafür, warum von der Reise durch das Ödland so eine große Faszination ausgeht. Zudem ist die Fahrt nicht ganz risikolos: Die Passagiere müssen vor Antritt die Eisenbahngesellschaft (die "Kompanie") von aller Verantwortung für mögliche Unglücksfälle freisprechen.
Der Roman von Sarah Brooks ist ein ganz und gar unmögliches Ding: die zeitlichen und räumlichen Daten geben den Rahmen für eine fiktive Abenteuererzählung, die einem Jules Verne gut zu Gesicht gestanden hätte, allzumal Brooks mit diesem gewaltigen Zug, der durch eine noch gewaltigere Wildnis rauscht, ein zentrales Thema des Klassikers aufgreift: die Faszination für Technik und Wissenschaft. Brooks aber verabschiedet allen Fortschrittsoptimismus des 19. Jahrhundert, indem sie die klassische Abenteuerreise in einem Genrestrudel aus Fantasy und Horror zermahlt.
Gleich in Peking lernen wir die zentralen Figuren des Romans kennen: Den Forscher Henry Grey, der wie besessen ist von der fremdartigen und als gefährlich geltenden Natur im Ödland. Maria Petrowna, Frau mit geborgtem Namen, die Licht in die tragische Geschichte ihres Vaters bringen möchte. Und Zhang Weiwei, das "Zugkind", das in diesem monströsen Zug auf die Welt gekommen und für immer (seit 16 Jahren) geblieben ist. Jede*r von ihnen ist mit einer eigenen Mission unterwegs. Um sie herum eine illustre Gesellschaft aus Zugpersonal und Adligen, nicht zu vergessen die Vertreter der Eisenbahnkompanie, die für Ruhe und Ordnung sorgen sollen und scheinbar allgegenwärtig / allmächtig sind: die "Krähen".
Schon bald passiert der Zug die erste Mauer. Dahinter wartet auf die Reisenden das gefürchtete und zugleich ersehnte Ödland. Eine Landschaft ungeheurer Ausmaße, die sich da zwischen China und Russland geklemmt hat und an die "Zone" aus Andrei Tarkowskis Stalker erinnert.
"Die Landschaft scheint zu schwanken, schreibt Rostow, als wäre sie auf feinste Gaze gemalt und ein anderes, nicht ganz identisches Bild darübergelegt worden, und dann noch eines, und bisweilen meint man, alle zugleich sehen zu können, was eine höchst unglückselige Wirkung auf den Beobachter hat."
Die Reisenden wurden vor dem "Ödlandweh" gewarnt, einer mit Halluzinationen einhergehenden Krankheit, und sind vor allen Dingen hermetisch von der sie umgebenden Landschaft abgeschirmt. Kontakt mit der als gefährlich geltenden Natur ist nicht vorgesehen. Was aber, wenn die Natur in ihrer ganzen Fremdartigkeit ihrerseits die Passage des Zugs behindert und den Zug buchstäblich vom Gleis abbringt?
Natürlich wird es irgendwann zum Ausstieg einiger Personen aus dem Zug kommen, die sich einer völlig unbekannten Lebensform gegenübersehen werden. Und natürlich wird diese Lebensform den Zug auf ominöse Weise in Besitz nehmen. Brooks erzählt das Ganze mit schier unermesslichem Erfindungsreichtum – und ist dabei zum Glück so mutig, mit ihren surrealen Gemälden ganz auf die Phantasie der Leser*innen zu setzen, die sich in einem Reich überbordenden, grenzenlosen Lebens wiederfinden, während die Dinge an Bord aus dem Ruder laufen.
Die Natur ist in diesem Werk anders furchterregend als von der Eisenbahn-Kompanie heraufbeschworen. Während das Unternehmen rücksichtslos seine Macht zu erhalten und den Profit zu maximieren versucht, ist sie vor allem eins: unschlagbar lebendig. Und immer für eine Überraschung gut – vorausgesetzt, man lässt alle Vorsicht fahren und vertraut der eigenen Wahrnehmung. So entpuppt sich dieser Grenemix aus Abenteuer und Fantasy als mitreißende Parabel über Macht und Rebellion.