Der Gott der Barbaren

Als "furios" gefeiert: Das Buch der seltsamen neuen Dinge von Michael Faber.

Die Geschichte des christlichen Missionars, der einer Spezies auf einem fremden Planeten das Evangelium verkünden möchte und feststellen muss, dass die Aliens begierig nach der Frohen Botschaft dürsten, während seine Beziehung zu der auf der Erde zurückgelassenen Ehefrau zerbricht, entpuppte sich allerdings zunehmend als enttäuschende Kulissenschau. Weder die Reflexion über den Glauben noch die Auseinandersetzung mit einer fremden Kultur oder das Science-Fiction-Setting konnten mich wirklich überzeugen; tiefer gebohrt, erwiesen sie sich schnell als bloße Hüllen, die um den Kern eines recht konventionellen Ehe- und Briefdramas gelegt waren. Wer da mehr wissen wollte, musste das mit der eigenen Phantasie ausmachen.

Ganz anders der schwere Brocken, den Stephan Thome mit Der Gott der Barbaren vorgelegt hat.

Der in Taipeh lebende Autor erzählt mit größter Genauigkeit und mit nahezu pedantischer Vernarrtheit in noch die kleinsten Details die Geschichte der Taiping-Rebellion im China des 19. Jahrhunderts. Das Personal ist zu weiten Teilen historisch verbürgt, die Schilderungen der chinesischen Kultur muten nahezu wasserdicht an, den Geschichten der Figuren wird buchstäblich bis in den letzten Winkel nachgegangen. Das wird dem Roman in meinen Augen zum Problem. Thome bleibt keine Antwort schuldig, sein Streifzug durch Kultur und Geschichte des Reichs der Mitte duldet keine weißen Flecken. Hier fehlt er, der Raum für die eigene Phantasie. Stattdessen stellt sich angesichts der komplexen Konstellationen, der teils schwer zu durchschauenden historischen Materie und der langen Spannungsbögen schnell ein wenig Ermüdung ein.

Dem Buch ist dabei nicht nur ein hilfreiches Personenverzeichnis beigegeben, Thome nutzt verschiedene Textsorten wie Tagebuch, Chronik, Zeitungsbericht, um aus verschiedenen Perspektiven auf die damaligen Konflikte zu schauen. Mitunter erinnert dies – auch in seiner Ausführlichkeit – etwa an Jules Verne.

Der Missionar Philipp Johann Neukamp kommt nach der Märzrevolution 1848 über Umwege nach China. Er will nach eigener Aussage "den Heiden das Evangelium bringen". Ähnlich wie bei Michael Faber aber hat ein Teil der vermeintlichen Heiden ihre Version des Evangelium schon entdeckt. Aufständische haben in China Mitte des 19. Jahrhunderts das Himmlische Reich des Großen Friedens ausgerufen und befinden sich nun, angeführt vom Himmlischen König als selbsterklärtem Stellvertreter Gottes auf Erden (und Bruder Jesus'), in offenem Kampf gegen den chinesischen Kaiser. Das Reich der Mitte ist schon bei Einsetzen der Handlung 1860 ein zerrissenes, hart umkämpftes Land.

Es ist ein schreckliches Land, aber wir werden es ändern,

das sagen nicht nur die christlichen Missionare, die mit Ablehnung, Gewalt und Krankheiten zu kämpfen haben; auch die Briten sind im Verbund mit ihren Allierten gekommen, ihre Interessen durchzusetzen – mit Verträgen und im Zweifel mit Waffen. Auch sie reisen mit Gott an Bord, vertrauen aber vor allem auf ihre Verhandlungskunst und ihre gottgegebene Überlegenheit.

Als dritte Partei auf dem Schlachtfeld stehen die offiziellen Repräsentanten Chinas den Aufständischen und den Ausländern gegenüber. Alle Beteiligten werden sich, ob mit oder ohne Gott, schuldig machen.

Der Barbar: das ist immer der andere.

Der chinesische General Zeng Guofan zitiert an einer Stelle einen Ausspruch des Gelehrten Wang Fuzhi:

Der Unterschied zwischen den Barbaren und uns ist, dass wir Mitgefühl haben.

Dass dies eine äußerst subjektive und problematische Sichtweise ist, zeigt natürlich die weitere Verstrickung auch der chinesischen Armee. Der Barbar, das ist für jeden der Beteiligten immer der Gegner. Und dieser Barbar hat qua definitionem den falschen Gott oder ist gar "gottlos". Währenddessen dauern die Kämpfe an, die Verwüstung greift um sich, und das China in Thomes Schilderung gleicht immer mehr einem failed state.

Der Unterschied zwischen ihnen und uns, dachte er, mochte einmal bestanden haben, aber bald würde es nur noch zwei Arten von Barbaren geben: jene von hinter dem Ozean und jene, die sich irrtümlicherweise für Chinesen hielten.

Es fällt nicht schwer, in diesem Land den Umriss von Syrien und anderer gegenwärtiger Krisengebiete zu sehen. China erlebt schon im 19. Jahrhundert die Auswüchse der Globalisierung: Handlungsinteressen, religiöse Konflikte, politische Frontlinien – all das lässt sich, so Thome, an dem riesigen (und nach diesem Buch noch viel unbekannteren) Reich ausführlich darlegen und als Blaupause für zahlreiche Konflikte der Gegenwart benutzen.

Immerhin: hier ist nichts bloße Kulisse. Und immer wieder gelingen Thome verblüffende, atemberaubende Szenen. Diesen Szenen wie auch dem Versuch, Geschichte und Gegenwart kurzzuschließen, hätten einige Kürzungen allerdings vermutlich gut getan.