Marianengraben

Zunächst scheint es sich bei Marianengraben um ein weiteres Exemplar der seit einiger Zeit trendenden Ich-Erzähler-Literatur zu sein: das schreibende Ich verarbeitet ein Stück Kindheits- oder Jugendgeschichte auf sprachlich recht authentisch-originelle, dramaturgisch meist ganz beschauliche Weise.

Narrative des Typus "Ich erzähle dir meine Geschichte", "Ich erzähle dir meine Familiengeschichte" oder schlicht "Ich erzähle dir, wo ich gewesen bin" bilden heute die beliebteste literarische Gattung. ... Wir erfahren alles über die Erzähler, können uns mit ihnen identifizieren, ihr Leben wie unser eigenes durchleben. Trotzdem ist das, was der Leser erfährt, überraschend häufig unvollständig und wenig befriedigend, stellt sich doch heraus, dass die Expression des Autoren-Ichs keine Universalität garantiert. Was uns fehlt, ist – so scheint es – die parabolische Dimension der Erzählung,

so Olga Tokarczuk in ihrer Nobelpreis-Rede im vergangenen Jahr.

Bei Jasmin Schreiber, in der Blogosphäre unter dem Namen La Vie Vagabonde und mit ihrem Blog Sterben üben bekannt, befinden wir uns am Grunde des Marianengrabens in 11000 Meter Tiefe – "gleichbedeutend mit einem Meter neunzig unter der Erde, der Tiefe deines Grabes". Die Ich-Erzählerin hat ihren Bruder durch einen Unfall verloren, seitdem steckt sie tief in der Depression; und das Buch wird, so suggeriert es die ungewöhnliche Kapitelnummerierung, den Weg zurück ans Licht zum Thema haben.

Folgerichtig und vorhersehbar denn auch der erste Schritt (auf 10430 Meter Tiefe): die Psychotherapie. Doch was geschieht? Der Psychotherapeut bringt die halbwegs wackelige Erzählerin Paula auf eine halbwegs abwegige Idee, die die Handlung des Romans kurz aus der vorhersehbaren Logik ins Absurde katapultiert – und fortan wandelt Jasmin Schreiber so selbstsicher wie formvollendet auf dem schmalen Grat zwischen Komödie und Drama. Auf dem Weg hinauf zur Wasseroberfläche – gespiegelt im ziemlich wahnwitzigen Roadmovie hinauf in die italienischen Alpen – begegnen die berührendsten Charaktere mindestens seit Wolfgang Herrndorfs Tschick.

Menschen ertrinken, Füchse fressen, Hühner, Leute sterben an Krebs.

So bringt Paula irgendwann die eigene Geschichte auf den Punkt. Viel mehr mag ich eigentlich auch gar nicht verraten, so überraschend und mitreißend ist diese Geschichte von einer jungen Frau, die der Verlust ihres Bruder von allem Lebendigen abgeschnitten hat, und die nun auf so schwere, so leichte Weise den Weg zurück ins Leben findet. Klingt pathetisch? Ist es nicht.

Denn Marianengraben, dieses unglaubliche Debüt, ist geprägt von sprachlicher Finesse, tiefer Weisheit und großer, befreiender Leichtigkeit. Mit ziemlich hohem Unterhaltungswert weist der Roman weit über die individuelle Geschichte der Paula hinaus – mit großer Relevanz in dieser von Krisen geschüttelten Zeit: während Paula um sich, den Tod und ihr Leiden kreist, übersieht sie, wie sie permanent und überall von Leben umgeben ist. In Marianengraben wimmelt es nur so von Leben in allen Formen und Größen; Pflanzen und Tiere, Bäume und Insekten, alte Geschichten und fast vergessene Häuser – alles ist miteinander und mit der Protagonistin verbunden. Was für eine Aussicht!

Jasmin Schreiber, studierte Biologin, schreibt über den Tod und zielt mitten ins Herz des Lebens. Ihr gelingt so, worüber Tokarczuk in ihrer Nobelpreisrede mit dem Titel Der liebevolle Erzähler nachdenkt: eine Erzählung, die die Ich-Erzählungen überblickt, übersteigt und umfängt. Tokarczuk:

Und deswegen glaube ich fest daran, dass ich so erzählen muss, als wäre die Welt eine lebendige, vor unseren Augen immerfort im Werden begriffene Einheit – und wir ein kleiner und zugleich mächtiger Teil dieser Welt.

Jasmin Schreiber: Marianengraben. Eichborn 2020
Olga Tokarczuk: Der liebevolle Erzähler. Vorlesung zur Verleihung des Nobelpreises für Literatur. Kampa 2020