Ich singe meine Sorgen und male mein Glück
Malka Marom im Gespräch mit Joni Mitchell
"Auf der Bühne stand eine junge Frau, die ihren Minirock bei der Heilsarmee gekauft haben musste. Den Rücken den leeren Stuhlreihen zugewandt, stimmte sie ihre Gitarre, immer und immer wieder neu. ... Ich hatte meinen Cappucino längst ausgetrunken, und immer noch stimmte sie ihre Gitarre, hier ein bisschen höher, da ein bisschen tiefer ... Dann drehte sie sich um, beugte sich über das Mikrophon, schlug ein paar Akkorde an, Akkorde, wie ich sie nie zuvor gehört hatte. Sie begann zu singen und stellte dabei von Vers zu Vers meine Wahrnehmung auf den Kopf, rückte die Wirklichkeit in ein neues, schärferes Licht."
Riverboat-Café Toronto, 1966. Mit dieser Kamerafahrt auf einer geheimnisvolle Stimme in der Dunkelheit beginnt der jüngst bei Kampa veröffentlichte Band mit Gesprächen, die die Journalistin Malka Marom mit Joni Mitchell führte – und zwar über insgesamt vier Jahrzehnte.
Die präzise beschriebene erste Begegnung erinnert mich daran, wie ich Joni Mitchell kennen lernte. Im halb beleuchteten, weitgehend leeren Foyer einer Studentenbühne erklangen von hinter dem Verkaufstresen her Songs von Mitchells Album Blue. Wahnsinnig schöne Songs, poetisch, unverständlich, nicht ganz von dieser Welt und doch so einfach, klar, sinnlich und warm: die Songs legten eine Spur durch das Wochenende, das ich mit einem Freund bei viel Rotwein und mit wenig Schlaf verbrachte. Sie sind wohl auf ewig verknüpft mit dieser Zeit der waghalsigen Träume und den Versprechen der Freiheit zu Beginn meines dritten Lebensjahrzehnts. Eine Stimme für den Aufbruch ins Ungewisse, die von der Möglichkeit des Scheiterns weiß und dennoch das Unmögliche für sich reklamiert.
"Ich habe dieses abnorme Bedürfnis, Neuland zu erobern."
In Ich singe meine Sorgen und male mein Glück trifft Malka Marom dreimal auf Joni Mitchell: 1973, während der Arbeiten an Court and Spark, 1979, während Mitchell am Album Mingus arbeitet, und zuletzt 2012, kurz vor ihrem siebzigsten Geburtstag. Die beiden kennen sich gut, und so gibt das Buch weit über "normale" Interviews hinaus Einblick in Leben und Schaffen der Musikerin. Größter Schwachpunkt der Zusammenstellung: die Gespräche sind – aus mir nicht wirklich einleuchtenden Gründen – so ineinander montiert, dass aus drei Interviews, zwischen denen ja teils Jahrzehnte lagen, ein langes, mäanderndes Gespräch entsteht. Leider lässt sich nur aus Nebensätzen der Zeitpunkt der einzelnen Passagen rekonstruieren. Das so entstandene "Gespräch" beginnt 2012, um recht schnell in die Zeit Anfang der 1970er Jahre zu springen. Die Werkbiographie scheint das ordnende Prinzip für diese Bearbeitung der Interviews – ganz überzeugend finde ich das nicht.
Aber natürlich: es gibt jede Menge zu erfahren. Über eine schwierige Kindheit und das eigene, zur Adoption freigegebene Kind. Über Krankheiten und die Lust zu rauchen. Über Leonard Cohen (natürlich) Bob Dylan (am Rande). Über Malerei und Jazz. Über buddhistische Lehrer und Vorbilder wie Miles Davis, Pablo Picasso, Vincent van Gogh oder Friedrich Nietzsche. Über The Circle Game und Both Sides Now. Songtexte unterbrechen den Gesprächsfluss und machen unbändig Lust, die alten Platten aufzulegen. Leider fehlt ein Index, der auch den umgekehrten Weg – die gezielte Suche nach im Gespräch behandelten Songs – ermöglicht.
"Ich bin ein Mensch, der im Grunde in keine Schublade passt."
Nein, nach Lektüre dieses Bandes passt die mir vorher irgendwie erstaunlich unbekannte Joni Mitchell in keine Schublade und in keinen Bilderrahmen. Eher stehe ich vor diesem Gespräch wie vor einem großen Patchwork-Teppich, aus dem mich ein eigenwilliges, ausdrucksstarkes, schwer zu fassendes Gesicht anschaut. Vom Leben gezeichnet, von Erfahrungen wund – und dennoch immer noch maßlos überzeugt von den eigenen Möglichkeiten.
"I make the same mistake over and over again, and I’m just a fool for love,"
erzählt Mitchell im überraschend im Herbst 2020 veröffentlichten Gespräch mit Cameron Crowe. Nachdem es viele Jahre stumm um Joni Mitchell geworden war, begleitete das Interview im Guardian die Veröffentlichung einer CD-Box mit Aufnahmen vom Beginn ihrer Karriere: das Box-Set Archives Volume 1: The Early Years zeigt Mitchell als Sängerin, die im Folk wurzelt und doch schon damals weit über ihn hinaus strahlt. Ich singe meine Sorgen und male mein Glück ist so auch der rechtzeitig erschienene Begleitband zu den umfangreichen Aufnahmen, mit denen man – mit oder ohne Rotwein – gut durch die Winternächte kommen dürfte.