Die Arbeit der Vögel
Der Zusammenhang zwischen dem Gehen und dem Denken, das Laufen als Arbeit für Körper und Seele, ist schon öfter, z.B. in dem schönen Draußen gehen von Christian Sauer und – ganz anders – in dem großartigen Laufen von Isabel Bogdan, thematisiert worden. Noch nie aber ist mir ein Buch untergekommen, das die physische Intensität des Wanderns allein durch seine sprachliche Dichte erfahrbar macht – und als Belohnung eine so sinnliche wie tiefgründige Erzählung (nicht nur) über menschliche Schicksale des 20. Jahrhunderts bietet.
In Bewegung setzen
Aber von vorn: Marica Bodrožić wandert über die Pyrenäen.
Mit ihrem ungeborenen Kind im Bauch vollzieht sie den Weg nach, den Walter Benjamin 1940 auf seiner Flucht vor den Nazis ging – bevor er sich am Ziel im nordspanischen Portbou das Leben nahm. Während Bodrožić wandert, schweifen ihre Blicke nicht nur kenntnisreich und verliebt durch die Natur, sie nutzt die Bewegung, um über Naheliegendes und Fernes nachzudenken. Das Leben und Werk des jüdischen Philosophen bildet dabei eine Landkarte, die der Autorin wichtige Koordinaten für ihre Seelenstenogramme liefert. Thematisch handelt Die Arbeit der Vögel, dieses große, in einem Durchgang kaum zu erfassende Denk- und Erzählwerk, von Fluchterfahrungen, von Gewalt und Ausgrenzung im 20. und 21. Jahrhundert, aber auch vom unentwegten Ringen um ein menschliches Miteinander: "Wir Menschen sind verantwortlich für das Licht."
"Wo die Arbeit der Vögel beginnt, dort hat das eindimensionale und Besitzansprüche stellende Ich an Einfluss verloren."
Marica Bodrožić kommt von einem zum anderen, während sie geht und erzählt. Den teils weiten Bögen zu folgen ist eine Herausforderung, vielleicht aber gar nicht nötig: indem sie erzählend durch die Zeiten springt (wandert), schafft sie Verbindungen, reist von Ort zu Ort, stiftet Begegnungen; all dies ist in seiner Unvorhersehbarkeit, ja Unvereinbarkeit irgendwie genau Thema des Buches: eine Art multiperspektivisches Erzählen (wie von Olga Tokarczuk in ihrer Nobelpreisrede skizziert), in der Vogelperspektive, Introspektive und der Blick in die Augen des Gegenübers ineinanderfallen.
Eine kleine Reise nach Hoyerswerda
So war ich als in Hoyerswerda Geborener überrascht, dass Bodrožić im Kapitel Die menschliche Wegstrecke nach einer grundlegenden ethischen Reflexion vom Weg abkommt und in der ehemaligen Vorzeigeschlafstadt nahe der Schwarzen Pumpe landet. Sie geht zurück zu den ausländerfeindlichen Krawallen 1991 und denkt über den Hass, die Schreie und die Gewalt nach. Um sich gleich darauf ins Wort zu fallen:
"Jetzt erinnert sich fast niemand mehr an die Redlichen. Ich habe die Stadt mit fünfhundert Zündlern gleichgesetzt."
Also streift sie die "Hassbilder" ab und trifft einzelne Mutmacher*innen: Martin und Helene Schmidt, die nicht nur Jahrzehnte den Hoyerswerdaer Kunstverein betrieben (und da auch mich gefördert) haben. Sie haben erst letztens, mit 80 Jahren, aus Altersgründen die Stadt verlassen, die sie einst mit aufgebaut haben. "Eine ideale Stadt", sagt Martin Schmidt, und Bodrožić macht den Umweg über frühere sozialistische Ideale hin zu Pier Paolo Pasolini und Joseph Brodsky: "Wir dürfen die Amselhörer nicht vergessen" – die, die eine andere Welt für möglich, die Erinnerung an sie wach und die Tür zur Menschlichkeit offen halten.
Unterwegs in Menschen und Landschaften
Ein wenig erinnert diese Erzählweise an die Materialschlachten von Alexander Kluge, Bodrožić aber geht es weniger um eine Chronik, als um eine Verknüpfung von Vergangenheiten und Gegenwarten, um Fragen an die Leser*innen zu stellen.
"Wir alle bauen die Welt im Austausch miteinander und erfahren dabei, dass es die Welt an sich nicht gibt, sondern dass sie erst entsteht, während wir uns öffnen und miteinander leben lernen."
Zahlreiche Künstler und Intellektuelle begleiten Bodrožić ein Stück des Weges: Ossip Mandelstam etwa, Hannah Arendt, Daniil Charms und natürlich Lisa und Hans Fittko, die damaligen Begleiter*innen Benjamins auf seinem Weg nach Spanien. Mit allen ist Bodrožić im engen Dialog, will sich genau in die Personen hineinversetzen (besonders bewegend im Fall der französischen Philosophin Sarah Kofman), will das Gegenwärtige in deren Geschichten finden.
"Dieses Unterwegssein in Menschen und Landschaften ist es, das an der Unendlichkeit des Geistes webt und Lektüre ist für mich und für alle, die ihren Platz auf der Welt als Empfindende beibehalten haben."
Warten und Wandern heißt ein Stenogramm, und das bringt die Poetik von Marica Bodrožić ganz gut auf den Punkt: In dieser Schule der Langsamkeit lernen wir, genau zu sehen. "Die mitgeführten Theorien trägt" während des Wanderns "der Wind davon, übrig bleibt die Anstrengung beim Gehen und führt zur höchsten Gegenwärtigkeit."
"Die Gefährtenschaft der Vögel und der Kinder machen ein anderes Gespräch möglich."
Der Boden für Freundlichkeit
So bewegt sie sich durch ein Kontinuum, durch eine "geistige Zeit", in der aus der Menge der Einzelne hervortritt, sein Gesicht zeigt, seine Stimme erhebt, seine Gedanken teilt. Es ist eine Welt der Verknüpfung des scheinbar Unzusammenhängenden, und Bodrožić findet auf dem Weg über die Pyrenäen ihren ganzen Reichtum, den sie fast schon maßlos, lustvoll und ungezügelt einsammelt, um ihn dann mit uns, ihren Leser*innen ebenso sorgsam und bedacht zu genießen. Diese Seelenstenogramme möchten voller Achtsamkeit in den Mund genommen und lange durchkaut werden. Ihren wahren Geschmack aber entfalten sie erst nach wiederholtem Genuss.