Maifliegenzeit

Als „wahrhaftig und voller Hoffnung“ hat Anne Rabe den Roman Maifliegenzeit von Matthias Jügler bezeichnet; mit ihrem Roman Die Möglichkeit von Glück teilt dieser schmale Band des in Leipzig lebenden Autors sein Thema: die unfassbare Willkür, Gleichgültigkeit und Brutalität, die die SED-Diktatur Kindern und Jugendlichen und in letzter Konsequenz auch Familien entgegenbrachte. Jügler aber erzählt anders als Rabe davon auf sehr ruhige, behutsame und im Vergleich eher konventionelle Weise. Was der Eindrücklichkeit des von ihm Beschriebenen keinen Abbruch tut. Im Gegenteil.

Matthias Jügler: Maifliegenzeit. Roman. Penguin 2024

Im Jahr 1979 werden Katrin und Hans Eltern eines Jungen. Doch sie werden ihr Kind Daniel nie in den Händen halten. Die offizielle Version: das Kind stirbt auf dem Weg ins Kreiskrankenhaus. Hans fügt sich schweigend ins Schicksal, Katrin glaubt, dass Daniel lebt. Die Beziehung zerbricht, nur wenige Jahre später stirbt Katrin an Krebs. „Ich möchte, dass du die Augen offen hältst“, trägt sie Hans noch auf: „Mach den Mund auf, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist, ja?“

Hans hat sich im Lauf der Jahre einen eigenen Fluchtort geschaffen: das Angeln. Es ist eine Tätigkeit, in der es wie kaum irgendwo sonst auf den richtigen Zeitpunkt ankommt, auf geduldiges Warten, die schnelle Reaktion, Übung und Geschick. Auf den ersten 8o Seiten seines Romans erzählt Jügler davon, wie dieser Zeitpunkt kommt, wie das für unmöglich Gehaltene passiert und er seinen Sohn Daniel findet (bzw. von ihm gefunden wird). Es ist eine Geschichte, wie sie sich manche Familien aus der einstigen DDR erhoffen dürften – die Zahl der Verdachtsfälle „gestohlener“ Kinder in der DDR, so der Autor, liegt bei etwa 2000. Was dann im zweiten Teil, in der Maifliegenzeit des Jahres 2018, geschieht, ist jedoch ganz anders als das, was sich Hans erhofft hat. Denn Daniel heißt Martin und hat seine ganz eigene Version der Geschichte. Und die handelt von lebenslangem Hass auf die Eltern, die das Kind vernachlässigten, so dass der Staat es retten musste.

Bis zum Schluss bangt man an der Seite von Hans, dass die Wahrheit recht behält. Hans’ schmerzhaftes Wiedersehen mit seinem Sohn lässt jedoch wenig Grund zur Hoffnung. Und Jügler erzählt realistisch und ruhig weiter, ganz ohne überraschende Wendungen oder Perspektivwechsel. Umso atem- und fassungsloser liest man Seite für Seite dieses erschütternden Buches, das der Unrechtsgeschichte des SED-Staates ein weiteres finsteres Kapitel hinzufügt.