Wunder warten überall

Auf dem Schreibtisch von Stefan Weigand stehen zwei Emaille-Kannen mit Stiften, Scheren, Brieföffner. Im Büro gibt es gelbe Postkisten, „Eigentum der Deutschen Post AG“ steht darauf. In seinem Haus finden sich ein Schallplattenspieler, Teeschalen und irgendwo mindestens (!) eine Schreibmaschine. Zeitungen und Notizbücher: sicher. Auch ein Fahrrad darf nicht fehlen. Und der Espresso für die Pause.

Meine Pausen verbringe ich seit einiger Zeit regelmäßig mit Stefan Weigands Buch über Die Wiederentdeckung der einfachen Dinge. Es heißt: Wunder warten überall. Es erwartet mich mit einer fast bescheiden zu nennenden Schlichtheit auf dem Wohnzimmertisch: ein kompaktes, schmales Bändchen, das geradezu alltäglich daherkommt – womit wir beim Thema wären. Weigand schreibt im Grunde über seinen Alltag, über alltägliche Begleiter und scheinbar Nebensächliches, mit dem wir doch einen großen Teil unseres Lebens verbringen.

“Während wir uns an den abstrakten Sinnfragen des Lebens abarbeiten, übersehen wir die überschaubare und gestaltbare Wirklichkeit“,

Weigand, der als Mediendesigner in Schwäbisch Hall lebt und die Gestaltung z.B. des Jesuiten-Magazins verantwortet, schreibt weniger grundsätzlich und ganz konkret. Ob über Bleistifte, Schreibmaschinen, Fahrräder, Schallplatten oder Quitten: er setzte Objekte und Themen nicht nur in wunderschönen Still-Leben in Szene, er widmet all den einfachen Begleitern seines Alltags auch Essays voller Ver- und Bewunderung, so dass all die kleinen Dinge ganz groß werden. Jeder seiner Texte ist eine Insel der Achtsamkeit und der Ruhe im Strom der Zeit. Nebensächliches wird zur Hauptsache.

“So wie du deine Tage verbringst, so verbringst du dein Leben,“

zitiert Weigand Annie Dillard. Aus dem Konkreten, Alltäglichen, vermeintlich Banalen – aus dem, was wir so gern für selbstverständlich nehmen und übersehen – besteht nun einmal das Leben. Wie in einem Katalog blättert man sich interessiert von Fundstück zu Fundstück und entdeckt manche neue Perspektive auf Dinge, die auch im eigenen Alltag eine Rolle spielen. Dieses Buch ist eine Einladung zum Innehalten, genau Hinschauen, eine bewusste Vorbeugung.

Gleich zu Beginn schildert Weigand den Besuch in der Werkstatt eines Töpfers, wo aus einem Erdklumpen eine Teeschale entsteht. „Das braucht jetzt seine Zeit. Es geht nicht anders - erst, wenn eine Mitte da ist, kann ich weitermachen,“ erklärt der Töpfer. „Ein Werk ohne klare Mitte ist nicht unmöglich.“ Diese Mitte ist die Ruhe, das Verweilen, zu dem jede von Weigands Betrachtungen einlädt. Eine Entschleunigung, die Kontakt herstellt zu der Welt um und in uns.

Stefan Weigand: Wunder warten überall. Die Wiederentdeckung der einfachen Dinge. Kösel Verlag 2020

In Wim Wenders’ Film Perfect Days blickt der Toilettenreiniger Hirayama jeden Morgen in den Himmel – um auch im Tagesverlauf immer wieder kurz den Kontakt zu dieser ihn umgebenden, umfassenden Wirklichkeit herzustellen. Diese Geste ist für mich der tiefste Ausdruck für Achtsamkeit: ein Sein in der Gegenwart. Kurzes Innehalten, Aufmerken, Staunen: das verändert die Haltung zur Welt. “Manchmal genügen ein paar Lichtteilchen, die die gut 149 Millionen Kilometer von der Sonne zur Erde auf sich genommen, um hier den Dielenboden zu verzaubern,“ schreibt Weigand. Mir hilft da manchmal auch einfach sein Buch.

Wie heißt es bei Mary Oliver?

Anweisungen für das Leben:
Gib acht.
Sei erstaunt.
Erzähl davon.