Sag mir, was hast du vor mit deinem wilden, kostbaren Leben
Dieses Buch, diese Frage im Titel passt natürlich bestens in die Jahreszeit: Sag mir, was hast du vor mit deinem wilden, kostbaren Leben. Damit sind wir aber schon mittendrin in unseren Vorstellungen und Bildern, um die sich Mary Oliver herzlich wenig kümmert. Denn warum sollte irgendeine Zeit im Jahr prädestinierter sein als eine andere, um die Augen zu öffnen, um rauszugehen oder, ja, Lyrik zu lesen?
Sag mir, was hast du vor mit deinem wilden, kostbaren Leben. Die Antwort von Mary Oliver, einer der bekanntesten amerikanischen Lyriker*innen der Gegenwart, gibt der englische Originaltitel dieses von ihr selbst zusammengestellten "Best-ofs" ihres Schaffens: Devotions. Hingabe. Im Plural. Denn all diese wundervollen Gedichte kennen nur eine Bewegung: Raus. Raus aus dem Haus, aus dem Selbst, hinein in die Welt. Gehen, schauen, staunen, das ist der Dreiklang, der dieser Lyrik ihre Tonalität gibt. Dass das nie in den Kitsch und nur selten ein wenig ins Pathos kippt, hat mit der Präzision der Beobachtungen und der Sprache von Mary Oliver zu tun. Und mit den vielen Fragen, die Oliver sich und ihren Leser*innen stellt. "I have no answer, but have some suggestions", sagt sie. In ihren Gedichten stellt sie daher jede Menge Fragen. Was hast du vor mit deinem wilden, kostbaren Leben?
"I don't like buildings", erzählt Oliver im sehr hörens- bzw. nachlesenswerten Podcast On Being. Schon früh ist sie in den Wäldern unterwegs, Gedichte von Walt Whitman und ein Notizbuch im Gepäck. "I got saved by poetry, and I got saved by the beauty of the world", sagt sie. Tag für Tag durchstreift sie die Landschaft, schaut, horcht, macht sich Notizen. Das hat viel mit Handwerk und mit Disziplin zu tun – und mindestens ebensoviel mit der heute so inflationär benutzten Achtsamkeit, die in diesen Texten immer mit Demut verbunden ist. "Über das Meditieren, mehr oder weniger" heißt nicht nur eins ihrer späten Gedichte – darüber lernst du hier indirekt jede Menge, "mehr oder weniger":
"Ich liege bloß da, während Raum und Zeit
ihre wahren Eigenschaften enthüllen: sie haben nie
von mir gehört, sie werden es und brauchen es auch nicht."
So entstehen seit den 1960ern bis zu ihrem Tod 2019 unzählige Gedichte, von denen nun eine umfangreiche, vielleicht auch repräsentative Auswahl auf über 400 Seiten nachzulesen ist. Es sind Gedichte, die unter den Arm geklemmt und hinters Ohr geschrieben werden möchten, in ihrer Einfachheit, Schönheit, Klarheit. Allein die drei Gedichte, die Doris Dörrie in ihrem kurzen Vorwort als Lieblingsgedichte nennt – "Der Sommertag", "Ich gehe zum Strand hinunter", "Ich sorgte mich" – liefern Gründe, warum du dieses Buch brauchst. Gedichte, die man sie immer wieder nachlesen will. Und ja, bei vielen Gedichten wünsche ich mir, ich könnte sie auswendig lernen, so klar und besonnen klingt ihre Stimme.
" Sehr direkt fragt sie, ob man wirklich Augen hat, zu schauen, Ohren, zu hören, und ein Gehirn, um zu begreifen. Stopp!, ruft sie. Was soll die ganze Geschäftigkeit? Schau dich um! Hör zu!",
so beschreibt Dörrie die Lyrik der Autorin. Blätterst du weiter, findest du gleich zu Beginn (aus der letzten Buchveröffentlichung von 2015 mit dem Titel "Felicity" - Glücksgefühle): "Ich erwache gegen Morgen", wo direkt erst einmal nach Gott gefragt wird, und "Heute Morgen", in dem die Küken des Kardinals einen großen Auftritt bekommen. Zwischen dem Kleinsten und dem Größten oszillieren Mary Olivers Gedichte, eine nicht endende Bewegung zwischen Himmel und Erde, die hier untrennbar miteinander verwoben sind:
"Ich habe mich geweigert,
eingeschlossen im aufgeräumten Haus von
Gründen und Beweisen zu leben.
Die Welt, in der ich lebe und an die ich glaube,
ist viel größer als dies."
Da sind sie wieder: die ungeliebten Häuser. Und draußen wartet die ganze große Welt, die sich wenig um Sinnfragen und Sorgen kümmert und mit ihrem bloßen Dasein die eine, herausfordernde Frage stellt. Sag mir, was hast du vor mit deinem wilden, kostbaren Leben?