Leben Schreiben Atmen
Sport machen. Mit dem Rauchen aufhören. Sich mehr Zeit nehmen für (...). Klassische Vorsätze zum neuen Jahr. Auch ganz beliebt: Gedichte lesen, täglich Tagebuch führen, ein Buch schreiben. Einige dieser Vorsätze habe ich auch schon selbst, teils mehrfach, ausprobiert. Waren sie von Erfolg gekrönt, dann sicherlich nicht, weil ich sie mir zu Beginn eines Jahres vorgenommen hatte. Das mit dem Buch immerhin, das habe ich bis heute nicht geschafft.
Doris Dörrie, mir bisher vor allem als Filmemacherin (Bin ich schön?) bekannt, hat in ihrem Leben schon so einige Bücher veröffentlicht. In ihrem neuesten Werk gibt sie, so der Verlag, Tipps und kreative Anleitungen zum autobiographischen Schreiben. Als Beispiele für die entstehenden Texte halten eigene biographische Skizzen her. Um es vorwegzunehmen: wirkliche Tipps, Handwerk, Regeln findet der Schreibwillige nicht in Lesen Schreiben Atmen, und für eine Autobiographie sind die kurzen Texte dann teilweise doch zu unzuverlässig, sprunghaft, frei assoziierend. Eine Mogelpackung also, eine Enttäuschung?
Wir sind alle Geschichtenerzähler.
betont Dörrie zu Beginn ihres Buches. Allerdings, so möchte man hinzufügen, trauen wir uns oft nicht. Eine gute Geschichte zu erzählen, ist eine Kunst, das muss man können, das muss kritischen Stimmen standhalten und den Ansprüchen vermeintlicher Zuhörer gerecht werden. Da ist sie, die Schere im Kopf, der Zensor, der mit uns am Schreibtisch sitzt, die innere Stimme, die die Unternehmung Schreiben für sinnlos erklärt, weil das idealtypische Ziel (ein Buch, Erfolg, Öffentlichkeit) von vornherein unrealistisch erscheint: Das kannst du niemals.
"Schreibend erinnere ich mich an mich selbst."
Ich schreibe, um diese unglaubliche Gelegenheit, am Leben zu sein, ganz genau wahrzunehmen und zu feiern. Ich schreibe, um einen Sinn zu finden, obwohl es am Ende keinen gibt. ... Schreibend erforsche ich die Welt. Meine Welt. Was beeindruckt mich? Was merke ich mir? Was erschüttert mich? Was erheitert mich? Woran erinnere ich mich?
Ich schreibe, seit ich weiß, wie man Buchstaben formt. Meine ersten Buchseiten füllte ich mit übergroßer Kinderhandschrift, als ich sechs, sieben Jahre alt war. Seitdem habe ich – siehe oben – zahlreiche Anläufe unternommen, habe Prosa geschrieben, Theaterstücke probiert, Stückfassungen für eigene Inszenierungen erstellt, Textvorlagen für Hörspiele... Nunja: so richtig erfolgreich war das wenigste davon. Einige Schreibseminare, diverse Ratgeber und ein Studium der Literaturwissenschaft später steht das eigene Buch weiterhin aus. Daran hat auch der ein oder andere Neujahrsvorsatz nichts geändert.
Im letzten halben Jahr habe ich mich mit Doris Dörrie auf ein neues Abenteuer eingelassen. Ihre Einladung zum Schreiben besteht im Kern aus einem einzigen, wenig originellen Rat: der Aufforderung zum täglichen freien Schreiben und zum wilden Assoziieren. Mit der Hand schreiben ohne abzusetzen, ohne Kontrolle und Korrektur, auf alle Fehler pfeifend, jeden Blödsinn zulassend – das ist im Grunde die einzige Lektion, die man dem Buch entnehmen kann.
Der Schlüssel zum Schreiben ist, nicht nachzudenken, um die Inspiration nicht zu unterbrechen.
Was dann folgt, sind kurze Schnipsel der eigenen Biographie, jeweils verknüpft mit thematischen Schreibimpulsen, die zunächst tief in die Kindheit und dann näher an die Gegenwart heran führen. Aus Erinnerungen werden Geschichten, aus dem irgendwie Gewesenen wird glaubhafte Fiktion, aus lang vergessenen Begegnungen entstehen reale Personen.
Alle Ratgeber zum kreativen Schreiben, die mir so begegnet sind, haben letztlich immer ein Werk und damit verbunden die Selbstverwirklichung, Selbstoptimierung zum Ziel. (Das teilen sie übrigens mit den meisten, zum Scheitern verurteilten Neujahrsvorsätzen.) Der große Gewinn an Doris Dörries Einladung zum Schreiben Lesen Schreiben Atmen ist, dass es diese Verbindung aufkündigt. Schreiben als Selbstzweck, als Freiraum, ohne Adressat, ohne Ziel – in diese Oase kehre ich mittlerweile, meist früh am Morgen, für ein paar Minuten und ein paar Seiten zurück: eine Zeit der Wunder und des Aufatmens. Die Einladung zum Schreiben – eine Einladung zum intensiven (Er-) Leben.
Um den Impuls zu konsumieren zu zügeln, hilft der Trick, den Stift in Bewegung zu halten, ihn übers Papier wandern zu lassen, dem Geräusch zu lauschen, das er macht, der eigenen Hand zuzusehen, wie sie schreibt – das allein ist schon eine sinnliche Erfahrung und ein ziemliches Wunder.
Doris Dörrie: Leben Schreiben Atmen. Eine Einladung zum Schreiben. Diogenes Verlag 2019