Ein fauler Gott
Möchten Sie einmal hautnah dabeisein, wenn eine Kuh kalbt? Mitten im Stall stehlen, inmitten von Dreck und Gestank und der Kuh in die Augen blicken, während sie unter Schmerzen und doch mit einem Blick, "als würde sie lesen", ihr Kalb aus sich herauspresst? Schreie, Kampf, Blut - und dann das Wunder: das Kälbchen "glitscht heraus und fällt aufs Stroh und in die Kuhkacke". Während die Färse Swantje ihr Erstgeborenes sauberleckt, entscheidet Chrisse, wie das Kalb heißen soll: Jonas. Chrisse ist Benjamins Freund, Jonas heißt Benjamins kleiner Bruder, der wenige Monate zuvor gestorben ist. Benjamin nimmt sich vor, kein Fleisch mehr zu essen.
Ganz Gegenwart
Stephan Lohse unternimmt eine zweifache Zeitreise. Er verlegt die Handlung seines Debüt-Romans Ein fauler Gott in die 1970er Jahre. Und er erzählt zu weiten Teilen aus der Perspektive des 11jährigen Benjamin. Entstanden ist aber weder eine Hommage an das Leben in den 1970ern noch ein klassischer Coming-of-Age-Roman. Behutsam färbt Lohse die Handlung mit Zeitkolorit ein, ohne dass das je vordergründig und zum Thema wird. Es herrscht pure Gegenwart. Die konsequent im Präsenz gehaltene Erzählung kommt ohne jegliche Distanz, ohne Wissen - weder Vor- noch Besserwissen - aus und rückt so den Phänomenen buchstäblich auf die Pelle. Ohne um den nächsten Augenblick zu wissen, ist der Erzähler immer hautnah dabei, ist ganz Ärger, Aufregung, Beobachtung, Staunen. Der Teenager Benjamin lehrt dem erwachsenen Leser in einer Szene wie der im Stall geradezu das Sehen.
Lohse erzählt von einem doppelten Zur-Welt-Kommen. Ganz am Anfang, sein Bruder ist gerade gestorben, liegt Benjamin im Bett und wünscht sich, er könne Tapete, Ziegel und Dach in Bewegung setzen - er könnte den Himmel sehen.
Er würde fliegen, das kaputte Haus hinter sich lassen, den zerstörten Garten, die Siedlung, den Wald. Die Wiesen und die Wege. Die Welt.
Leben lernen
Auf den "faulen Gott" ist kein Verlass, auf die eigene Phantasie schon. Benjamin flüchtet - jedoch nicht aus der Welt, sondern mitten in sie hinein. Er entdeckt Freunde, Fußballspiele, Schlagerplatten und schmeckt den ersten Kuss. Die Welt als Wille und Vorstellung, angefüllt mit merkwürdigen Situationen, eine Schnipseljagd zu sammelnder Erfahrungen. Benjamin entdeckt in dem Jahr nach dem Tod seines Bruders seine Freiheit.
Währenddessen wird seine alleinstehende Mutter von Trauer und Schuldgefühlen gefangengenommen. Sie versinkt immer tiefer in einer Stille, die sie von allen und allem trennt. Nur einer vermag sie zurückzuholen ...
Mami lebt. Sie war zu gleichen Teilen seine und Jonas' Mutter. Was mit Jonas' Teil geschieht, ist unklar. Vielleicht bekommt Ben ihn. Vielleicht nicht.
Diese Rechnung steht wie eine Wette am Anfang des Buches. Alles kommt anders, als es in der kindlichen Vorstellung scheint. Zum Glück?
Stephan Lohse: Ein fauler Gott. Roman. Suhrkamp 2017