Warum der Osten anders bleibt

Bücher von Steffen Mau und Susanne Tägder

Ungleich vereint

Warum der Osten anders bleibt – dieser Frage geht der Soziologie Steffen Mau mit seiner Wortmeldung im 35. Jahr nach dem Mauerfall nach, die den schlichten Titel Ungleich vereint trägt. Eine bessere Lektüre als dieses schmale, unaufgeregte Bändchen kann es im Sommer vor den Landtagswahlen in einigen ostdeutschen Bundesländern gar nicht geben. Denn Mau beschreibt ganz sachlich einen Ist-Zustand jenseits von Wunsch- oder Schulddenken. Lange Zeit erwartete und erhoffte man, dass sich der Osten dem Westen einfach angleichen würde – eine Vorstellung, die laut Mau schon lange nicht mehr der realen Entwicklung entspricht. Statt jetzt aber Vorwürfe aufzumachen und Lagerdenken zu bedienen, befasst sich Mau mit den Ursachen der heutigen Entwicklung sowohl in der DDR-Zeit als auch in der mühseligen Transformationsphase danach. Und ohne Verklärung skizziert er ostdeutsche Eigenarten in Sozialstruktur, Demografie und Kultur bis hin zu einer ostdeutschen Identität - die eben nicht eine “westdeutsche Erfindung” (Dirk Oschmann) sei, sondern mit spezifischen ostdeutschen Gegebenheiten zu erklären ist.

Steffen Mau: Ungleich vereint. Warum der Ostden anders bleibt
Steffen Mau: Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt. Suhrkamp 2024

Aus wirtschaftlicher Schwäche, eigener – vom “Westen” oft ignorierter – politischer Kultur und dem eigenen Erfahrungsraum entstand so eine Region mit ganz eigenen Strukturen und Konfliktlagen. Die Vorherrschaft einer staatsskeptischen bis staatsablehnenden Haltung in Verbindung mit einer großen Distanz zum parteienpolischen System der BRD ist da wohl die gravierendste Entwicklung, die radikale Kräfte erstarken und die in Ostdeutschland sowieso schon schwach ausgebildete “bürgerliche Mitte” verschwinden lässt.

Soweit die Kurzfassung. Die Schrift von Mau wartet mit zahlreichen spannenden Einsichten zur aktuellen Lage in Ostdeutschland und mit einigen skizzenhaften Lösungsvorschlägen auf (Ostdeutschland als “Labor der Partizipation”). Fast so etwas wie eine Pflichtlektüre in diesem Jahr.

Das Schweigen des Wassers

Dazu passt, nicht nur stimmungsmäßig, der erste Kriminalroman der in der Schweiz und Amerika lebenden Autorin Susanne Tägder. Sie nimmt uns mit in eine mecklenburgische Kleinstadt im Jahr 1991. Von Aufbruch und blühenden Landschaften ist hier nicht viel zu sehen, die Stadt zeigt sich eher trist, ihre Bewohner haben mit teuren Mieten und drohender Arbeitslosigkeit zu kämpfen. Umso angestrengter versucht man, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und nach vorn zu sehen.

Susanne Tägder: Das Schweigen des Wassers
Susanne Tägder: Das Schweigen des Wassers. Kriminalroman. Klett-Cotta 2024
„Voran ist eine von Bekendorfs bevorzugten Vokabeln. Sie erinnert Groth an das Banner, das früher über dem Schultor aufgespannt war: Vorwärts immer, rückwärts nimmer.“

Da kommt es unpassend, dass ein scheinbarer Selbstmord am städtischen Bootsverleih den Staub der Vergangenheit aufwirbelt: Im Jahr 1980 wurde eine Abiturientin nach einer Tanzveranstaltung als vermisst gemeldet und eine Woche später tot aufgefunden. Der aus politischem Willen für schuldig Erklärte, ein Musiker namens Siegen Eck, widerrief sein Geständnis. Der Fall blieb unaufgeklärt, das Leben von Siegen Eck jedoch war ruiniert. Nun ist er es, der tot aufgefunden wurde – und ausgerechnet der aus Hamburg in seine einstige Heimatstadt zurückgekehrte “Aufbauhelfer Ost” Arno Groth ermittelt in dem Fall.

Die Wasser sind tief in Wechtershagen, tief und verschwiegen, doch Groth arbeitet unkonventionell, intuitiv (“wie ein Literat”) und irgendwann auch gegen den Willen seines Chefs (Bekendorf), der – siehe oben – voranschreiten möchte statt zurückzublicken. Nach und nach zeigt sich Groth die von Misstrauen und Angst gezeichnete Kleinstadtgesellschaft, in der die Vergangenheit alles andere als bewältigt ist. Doch die Menschen haben so sehr mit ihren eigenen beschädigten Leben, mit gebrochenen Biographien und Zukunftssorgen zu tun, dass niemand an Aufklärung interessiert zu sein scheint. Und so beobachtet man mit Arno Groth in der Vorweihnachtszeit 1991 wie in Großaufnahme einen Teil jener Entwicklungen, die Steffen Mau mit wissenschaftlichem Abstand beschreibt: wie sich die ostdeutsche Öffentlichkeit zum Zeitpunkt ihres Entstehens verwandelt und gleich wieder zu verschwinden droht. Die “Aufbauhelfer Ost”, westdeutsche Eliten, Intellektuelle und Politiker, waren dabei oft Teil des Problems. In Tägders Krimi, der auf einem wahren Fall basiert, ist Groth am Ende doch Teil der Lösung – möglicherweise.

Tägder beschreibt ihr Buch als “Metapher für den vergessenen Fall DDR und seine Aufarbeitung”. Ihr stimmungsvoller, von einem präzisen Blick auf “ostdeutsche Verhältnisse” geprägter Kriminalroman um einen Franz Kafka lesenden Ermittler inmitten der tristen Nachwenderealität ist eine Reise in eine nur scheinbar weit zurückliegende Zeit.