Stimmen
Einige der schönsten Kurzgeschichten des letzten Jahres finden sich gleich zu Beginn des laut Herausgebern letzten Bandes mit "neuen Texten" von Wolfgang Herrndorf. Wobei: so neu sind die in Stimmen versammelten Prosastücke und Gedichte nicht (auch Essays und ein Dramolett finden sich darin). Viele wurden zwischen 2001 und 2009 vorzugsweise im Internet veröffentlicht. Manche fanden sich auf Herrndorfs Computer – sie sind der Vernichtung durch die großzügige Interpretation eines Diktums des Autors gerade noch einmal entkommen:
Einen Ordnern UNBESEHEN LÖSCHEN auf meinem Desktop eingerichtet und Freunde gebeten, gemeinsam dieser Aufforderung nachzukommen. Ich möchte, dass es am Ende mehrere sind und nicht ein Einzelner, der aus Neugier oder anderen persönlichen Gefühlen auf die Idee kommt, meine Entscheidung in Frage zu stellen,
notiert Herrndorf am 11.5.2010 in sein Tagebuch. In den Jahren vor seinem Freitod vernichtete Herrndorf stapelweise Texte, löschte Dateien, zerstörte Festplatten. Er übte radikale Kontrolle darüber aus, was er der Nachwelt hinterließ – anders als Franz Kafka verließ sich Herrndorf dabei nicht auf einen Max Brod. Marcus Gärtner und Cornelius Reiber haben nun Texte, die bleiben sollen, zusammengestellt – Texte, die in ihren Augen nicht unter das Vernichtungsdiktat des Autors fallen, teilweise, weil sie (heute unzugänglich) schon veröffentlicht waren, oder weil sie sich nicht in besagtem Ordner befanden.
Mit Arbeit und Struktur habe ich Wolfgang Herrndorf schätzen gelernt, bevor ich seine Prosa kannte. Mich traf das Schonungslose, Präzise seines Schreibens, diese Distanz gegenüber allen Illusionen bei größtmöglicher Klarheit, eine Aufrichtigkeit, die von Liebe und Empfindsamkeit geprägt ist, von Skepsis und Begeisterungsfähigkeit gleichermaßen. Keine Hoffnung, keine Verzweiflung, so die vielleicht passende Formel von Heiner Müller. Nein, es wird nicht wieder gut, weiß Herrndorf in den Jahren seiner Krankheit; aber genau deshalb muss man daran arbeiten, dass wenigstens der Rest glückt.
In den berührenden Miniaturen, die am Anfang dieses zweiten Nachlassbandes stehen (ein erster, ebenso irrlichternder erschien 2014 unter dem Titel Bilder deiner großen Liebe), entwirft der Erzähler mit kurzen Sätzen Jugenderinnerungen, die den altersbedingten Hang zu Romantik, Naivität und Kitsch nicht leugnen, nicht abstreifen. Gleichzeitig aber schwingt im lakonischen Erzählton der Abstand des Erwachsenen zu seiner Geschichte mit. Die ersten Freundinnen, der erste Kuss, das zarte Glück und das ganze große Leiden – alles wird freundlich, voller Sympathie geschildert. Das jüngere Ich und das ältere: beide haben ihre Wahrheit, ihre Berechtigung, ihre Zeit, und Herrndorf gelingt es, die unterschiedlichen Erfahrungen nicht gegeneinander auszuspielen, sondern als gleich gültig bestehen zu lassen.
Die Leichtigkeit, mit der das Geschlechterverhältnis praktiziert wurde, konnte ich nie begreifen.
Dass die Sehnsucht letzten Endes unerfüllbar ist – Herrndorf erzählt davon bei vollem Bewusstsein und irgendwie ganz nebenbei. Auch hier wehrt er sich – trotz allem "besseren Wissen" – gegen Abgeklärtheit und Vernunft und verteidigt die Sehnsucht gerade angesichts ihrer Vergeblichkeit.
Herrndorf war bekannt dafür, vorgegebene Rahmungen und Genreregeln aufzugreifen und, buchstäblich, an die Wand zu fahren. In Stimmen, die von den Jugenderinnerungen über das Berlin der 1990er Jahre bis in die Gegenwart des Schreibenden führen, ist sicherlich nicht alles gleichermaßen gelungen; immer wieder aber gelingt es ihm, Erwartungen zu unterlaufen bzw. zu brechen.
Wolfgang Herrndorf: Stimmen. Texte, die bleiben sollen. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Marcus Gärtner und Cornelius Reiber. Rowohlt Berlin 2018. Weitere Informationen hier