Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst
Lösch alle Nutzerkonten! Auch Instagram und Whatsapp gehören zu Facebook, sammeln deine Daten und spionieren dich aus. Twittere nicht, dass du Facebook verlassen hast, und poste nicht bei Facebook, dass du nicht mehr twitterst.
Ich habe dieser Tage meinen schon länger stillgelegten Facebook-Account endgültig gelöscht. Und ich habe dies auf meinen verbleibenden Social Media Kanälen Instagram und Twitter verkündet. An diesem zugegebenermaßen etwas schizophrenen Verhalten zeigt sich, in welchem Maß Jaron Laniers Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst überzeugen – und wo sie, Überzeugungskraft hin oder her, an eine Grenze kommen.
Es ist wie mit Anleitungen zum Nicht-Rauchen oder zum achtsamen Essen: Der Leser bringt eine gewisse Disposition mit, die durch solch ein Buch vielleicht bestätigt und durch den kleinen ausschlaggebenden Faktor ergänzt wird – ob diese irgendwie doch sehr amerikanisch anmutende Form der Ratgeberei die eigenen Gewohnheiten aber so grundlegend erschüttern kann, dass daraus ein neues Verhalten erwächst, wage ich mit einer gesunden Portion Skepsis zu bezweifeln.
Der Friedensbuchpreisträger Lanier, der als "Internetpionier" durchaus als Insider gelten darf, wirft erhellende und erschreckende Blicke auf das Geschäftsmodell, das die Entwicklung des Internet in den letzten zehn Jahren bestimmt und uns über die Maßen im Griff hat. Mit Fokus auf der Erörterung von psychologischen Mechanismen und technischen Möglichkeiten opfert er manch tiefgründigere Analyse einem Hang zur griffigen Formulierung und zu direkten Imperativen ("Rette Kinderleben: Lösch deine Accounts."). Das sorgt für Dramatik, schmälert aber hin und wieder die Nachvollziehbarkeit und Überzeugungkraft. Leider.
Die Filter Bubble ...
Denn nichts wäre angesichts der fortschreitenden Digitalisierung aller Lebensbereiche so notwendig wie eine Kritik, die auf der Höhe der Zeit und vor allem auf der Höhe ihres Gegenstandes ist. Vor sechs Jahren schon schrieb Eli Pariser über das Leben in der Filter Bubble. Er untersuchte die Techniken der Personalisierung bei Google und Facebook und legte überzeugend dar, wie wir uns zunehmend in personalisierten Wirklichkeiten bewegen, die unsere Identität in einen Loop aus sich verstärkenden Inhalten und die Öffentlichkeit in einen privaten Raum verwandeln.
Your identity shapes your media, and your media then shapes what you believe and what you care about.
Noch heute stelle ich in Gesprächen immer wieder erstaunt fest, dass dieser grundlegende Mechanismus – der unsere Facebook Timeline ebenso bestimmt wie die Suchergebnisse, die Google uns präsentiert – weithin unbekannt ist. Erklärt man die Filter Bubble, löst man Verwunderung und eine Art grausige Faszination aus: So etwas geht? Unvorstellbar! Möglicherweise bleiben ein paar Fragezeichen stehen, aber meist scheitert die aufkeimende Erkenntnis daran, dass man sich schlicht nicht vorstellen kann, dass so etwas funktioniert. Außer für Techies ist das Thema scheinbar einfach zu abstrakt.
Hier nun greift Lanier die Lupe und sieht sich die Funktionsweise der Filter Bubble genauer an. Eine gewisse Hemdsärmeligkeit in der Formulierung und keine Scheu vor vereinfachenden Analogien helfen ihm, das Phänomen zu verdeutlichen:
Deine eigenen Ansichten werden bestätigt, außer wenn dir die – von Algorithmen berechneten – irritierendsten Versionen gegensätzlicher Meinungen präsentiert werden. Sanftes Geplätscher oder wüstes Geschrei: was immer deine Aufmerksamkeit am besten fesselt.
... ist nun BUMMER
Die Filter Bubble aber ist für Lanier nur ein Aspekt in einem großen Zusammenhang, den er in dem Kunstwort BUMMER zusammenfasst. Als BUMMER bezeichnet er die Funktionsweise (oder besser: das Geschäftsmodell) von Social Media. Was umgangssprachlich soviel wie "Mist!" oder "Blöd!" bedeutet, liest sich in der kryptischen Langfassung als
Verhaltensweisen von Nutzern, die verändert und zu einem Imperium gemacht wurden, das jedermann mieten kann.
Die Implikationen und Auswirkungen dieses Geschäftsmodells untersucht er dann in zehn Kapiteln genauer.
Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts löschen sollest:
Du wirst zum Arschloch. (Vielleicht nicht unbedingt du, aber statistisch betrachtet eine Mehrzahl von Nutzern.) Du wirst überwacht. Du bekommst Inhalte aufgezwungen. Wahrheit wird relativ. Das was du sagst, wird bedeutungslos. Du verlierst dein Mitgefühl. Du wirst unglücklich. (Vielleicht nicht gerade du, aber statistisch betrachtet ist das gar nicht so unwahrscheinlich.) Du (oder irgendjemand anders) verliert sein sicheres Einkommen. Du verlierst am Ende gar deine Seele?
Diese Thesen sollen so abstrus wirken, wie sie hier stehen. Umso bestechender erscheint die Logik, die Lanier dann durchbuchstabiert. Das Geschäftsmodell von Google, Facebook oder Twitter als den Prototypen von BUMMER besteht, so Lanier, darin, den Nutzer (der sich selbst als Kunde wahrnimmt) zum Produkt zu machen, das anderen Kunden (Werbetreibenden z.B.) verkauft wird. Im Zentrum steht die "Verhaltensmodifikation" des Nutzers – an die Stelle von klassischer Werbung tritt Manipulation.
Die Steigerung der Engagementrate ist das wichtigste Ziel, dem alles andere untergeordnet ist.
So liefern sich die Nutzer Algorithmen aus, die selbst ihre Schöpfer nicht bis ins Detail verstehen – mit nicht zu überschätzenden Auswirkungen auf das individuelle wie das gesellschaftliche Leben. Das persönliche Suchtverhalten sowie eine wie direkt den Pawlowschen Experimenten entsprungene, nur scheinbar soziale Kontrolle auf der einen Seite und der Zusammenbruch politischer Öffentlichkeit oder der Niedergang des Journalismus auf der anderen Seite bedingen und verstärken sich gegenseitig. Die Nachrichten werden dünner, Fake und Arschlöcher regieren die Welt, denn Aufmerksamkeit ist ein knappes Gut, das bevorzugt auf negative Reize reagiert.
Die BUMMER-Maschine ist ... präzise darauf abgestimmt, die Empathie-Fähigkeit der Menschen zu zerstören.
Die smarte Diktatur
2016 hat der Sozialwissenschaftler Harald Welzer in seinem Buch Die smarte Diktatur mit viel Eifer die gesellschaftlichen Hintergründe und Visionen der Unternehmen und Menschen hinter Social Media ans Licht gezerrt. Welzer deckt bestürzende - und immer noch, zunehmend, lesenswerte – Zusammenhänge auf und nutzt als bekennender Smartphone-Verweiger alle Mittel der Polemik, um die neuen Technologien zu brandmarken. Leider bleibt er am Ende so richtig überzeugende Alternativen respektive Handlungsoptionen schuldig.
Anders Lanier, wenn er schreibt:
Das Problem mit BUMMER ist nicht, dass es irgendeine bestimmte Technologie nutzt, sondern dass es sich um einen Machttrip von jemand anderem handelt.
Nicht das Smartphone, nicht die Technik ist das Problem, sondern das Geschäft, das auf ihrer Basis gemacht wird, die Freiheit, die schleichend und mehr oder weniger unbewusst geopfert wird. Der Fehler, so Lanier, liegt in der Grundannahme, dass Dienste im Internet kostenlos sein müssen. Denn das führt dazu, dass die Konzerne anderweitig Umsätze generieren müssen. Nur scheinbar zahlen die Nutzer nicht für empfangene Leistungen, in Wirklichkeit verlieren sie ihre Freiheit, ihre Selbstbestimmtheit, ihre Authentizität. Siehe oben.
"Verteufel das Internet nicht, sondern nutze es!
Anstatt zu versuchen, die BUMMER-Unternehmen zu vernichten, sollten wir sie lieber dazu bringen, ihr Geschäftsmodell zu ändern.
Lanier macht am Ende eine Reihe von konkreten, eigentlich naheliegenden Vorschlägen, wie ein zeitweiliger Ausstieg aus Social Media aussehen kann. Schreibe E-Mails. Rufe Nachrichten-Seiten direkt auf. Abonniere sie. Nutze RSS-Feeds (sage ich, als überzeugter RSS-Nutzer). Nutze lokale Online-Services. Bau deine eigene Website. Und irgendwann, wenn die Social Media Anbieter ihr Geschäftsmodell geändert haben, kehrst du vielleicht zu Facebook & Co. zurück.
Utopisch? Vielleicht. Auf diesem Wege aber wird man, so Lanier, vom dressierten Hund zur eigenwilligen Katze. "Bewusstsein ist der erste Schritt zur Freiheit."
Wenn du dich befreien willst, authentischer und weniger süchtig sein willst, wenn du weniger manipuliert werden und weniger paranoid sein willst – dann musst du deine Social Media Accounts löschen.
Ich habe schon mal angefangen.