zögernd beharrlich
zu Uwe Timm
Ein Band, der Erzählungen und Aufzeichnungen von Uwe Timm versammelt – Chronik eines halben Jahrhunderts deutscher Geschichte: Timm schreibt über Heinar Kippardt, Benno Ohnesorg, seinen im zweiten Weltkrieg gefallenen Bruder und befragt immer wieder: sich.
„Es gelang erst, als sich eine Sprache, eine Form fand, die vor allem auch diese Einsicht in sich trug, dass ein Schreiben nur möglich war, wenn ich auch über mich schrieb.“
Und „über mich“ meint bei Uwe Timm das „Ich“ des Schreibenden, keine literarische Konstruktion, keine Spiegelung, Brechung, kein Spiel mit Metaebenen, wie das zum Beispiel den sich immer wieder kommentierenden Stil Christa Wolfs ausmacht. Nein, hier stellt ein verwundbarer, ratloser, suchender Autor Fragen – und das ist nicht konstruiert, sondern aus Erleben und Erinnerung (und Erinnerungslücken) erwachsen. Daraus entsteht ein Wandern offenen Auges durch das letzte Jahrhundert, das – ohne Antworten, ohne rahmende Kommentare – den Leser mit Geschichte konfrontiert, sehr konkreter Geschichte, sehr konkreten Fragen. So löst Timm in einer Art „Gesprächsangebot“ an seinen Leser ein, was er in seinem Versuch über Kipphardt dem Freund zuschreibt: „das Wort sollte dem Leser mehr Raum lassen, ihn nicht festlegen, zwingen.“
Dabei zwingt Timm den Leser durchaus: zur Auseinandersetzung. Gerade in dem stärksten Text des Buches, Am Beispiel meines Bruders, entsteht durch die assoziative, fragmentarische Struktur eine Leerstelle, Raum, in dem Leser und Autor gleichermaßen fragend den blinden Flecken, den Widersprüchen und Spannungen gelebter Geschichte ausgesetzt sind. Am Beispiel des Bruders, der als Mitglied der Waffen-SS in Russland gefallen war, fragt Timm – so zögerlich wie beharrlich – nach den Abgründen menschlicher Grausamkeit. Dass es der Bruder und dessen Front-Tagebuch ist, anhand dessen das Unbegreifliche nachvollzogen werden muss, macht dieses Bemühen um Aufklärung nur schmerzhafter – und zwingender.
Diese Offenheit, die sich durch die gesamte Textsammlung zieht, macht Uwe Timms Schreiben greifbar, nah und, ja, wertvoll. Hier ist das Private tatsächlich politisch – denn alles, jeder Mensch, jede Begebenheit, jede Episode, ist dem Erzähler / Autor gleich wichtig. Indem Erinnerungen, Träume, Notizen scheinbar unverbunden nebeneinander stehen, entsteht ein Zusammenhang, der auf allen Ebenen – persönlich, gesellschaftlich, politisch – Geschichte ergibt. Die Familiengeschichte der Timms, der Schwerpunkt in Am Beispiel meines Bruders, die Wirren der Studentenbewegung, die Freundschaft mit Benno Ohnesorg, die Geschichte des Autoren Uwe Timm – all das sind Knotenpunkte eines Geflechts, das man deutsche beziehungsweise europäische Geschichte nennt.
„Erinnern führt ins Innere. … Zur Trauer, meiner, gehört auch, nicht gefragt zu haben. Nicht mehr die Möglichkeiten haben, etwas zu klären, zu erklären. Und zu verstehen.“
Diese Trauer, angesichts des Todes des früheren Studienfreundes Benno Ohnesorg, ist innerster Antrieb des Fragenden. Immer wieder hat es Timm mit Widersprüchen zwischen der politischen Schicht von Geschichte (die Waffen-SS und ihre Grausamkeiten, die Ermordung Ohnesorgs auf einer Demonstration gegen den persischen Schah, die Instrumentalisierung der Ermordung durch die Studentenbewegung) und den eigenen Bildern, Erlebnissen und Erinnerungen zu tun. Die vage Erinnerung an den Bruder spricht gegen die Grausamkeit, die auch in dessen Tagebuch zu finden ist. Der Mensch aus der Kindheit ein Unmensch? Wie geht das? Oder Ohnesorg: Beide haben zusammen gelernt, gelesen, geschrieben:
„Anders der Freund, dessen sanfte Zurückhaltung sich jeder offen ausgetragenen Konkurrenz verweigerte. Das Lesen, Hören, Malen, aber ohne Anspruch auf Richtigkeit, ohne gewaltsame Behauptungen. Fern erschien er, unberührbar. Ein Mondstrahl.“
Wie konnte dieser Freund zum Wortgeber einer politischen Bewegung werden. Was war in den Jahren geschehen, in denen man sich auseinanderbewegt hatte? „Wie kam es zu dem Verstummen, noch vor seinem Tod?“
Geschichte als Aufeinanderschichtung. Widersprüche werden verdeckt von Erzählungen. Erzählen gräbt sie wieder aus. Erzählen kann das Verlorene, Vergangene, nicht auslöschen, nicht gut und nicht rückgängig machen, das ist die schmerzhafte Erkenntnis. Nein, ein Erzählen wie das von Uwe Timm kann auch keinen Sinn stiften. Aber es kann das Begehren danach und das Scheitern daran im Dreieck zwischen Politik, Leben und Kunst verständlich machen (grandios: der Essay über Antonio Gramsci in den Römischen Aufzeichnungen) – und weitergeben.