zur Erinnerung

Christa Wolf: Stadt der Engel

Christa Wolfs neuer Roman ist wohl nicht nur vom Umfang her das Schwerwiegendste, das sie in den letzten zwanzig Jahren veröffentlicht hat. Unzeitgemäß und anachronistisch ist es vor allem eins: ein Erinnerungsbuch.

  1. Stadt der Engel erinnert zuallererst an eine Poetik, mit der Christa Wolf seit den 1970ern ihre Spuren in der Literaturgeschichte hinterlassen hat. Eine Poetik, die, an der Romantik geschult, Literaturgattungen wie die des Romans nur benutzt, um mit ihnen zu spielen. Die Gattungsgrenzen nur kennt, um sie zu unterlaufen. Was im Zeitalter real existierender Mauern und Grenzen ebenso wie zu den Zeiten der Romantiker sicherlich eine politische Bedeutung hatte, hat jetzt nur mehr eine ästhetische, sorgt aber für eine erfrischende und anregende Lektüre, wie man sie bei der Flut des zeitgenössischen Realismus oft nicht erlebt. Als Roman getarnt, ist dieses Buch ein endloser Essay, ein Reisebericht, ein Tagebuch und – wie bei der Wolf fast immer – eine Reflexion über das Handwerk des Schreibens. Einer Suchbewegung folgend, baut die Erzählerin Material vor dem Leser auf, das weit über das knappe Jahr ihres Amerika-Aufenthalts hinausreicht, welches dem Buch seinen Rahmen gibt. Weit darüber hinaus, heißt vor allem: weit in die Vergangenheit hinein.

  2. Das Schreiben von Christa Wolf erinnert aber auch an eine „Tugend“, die man ähnlich bei anderen Autoren der ehemaligen DDR findet: die des konkreten, klaren, benennenden Erzählens. Fast jeder Autor ist in der DDR durch die beiden Schulen des „realistischen“ Erzählens gegangen. Neben dem Bitterfelder Weg und seinen Ausartungen vor allem durch die des Literaturinstituts Johannes R. Becher in Leipzig. Und egal, wie sehr jeder einzelne von ihnen sich vom „sozialistischen Realismus“ oder dem, was auch immer das sein sollte, entfernt hat – eine Haltung, ein Ton ist meist geblieben. Es ist eine Erzählhaltung, die die Wirklichkeit möglichst knapp, möglichst genau wiederzugeben versucht. Der bewussten Ökonomie im Erzählen entspricht eine Klarheit, eine Deutlichkeit, ein Gefühl für Rhythmus, für Satzzeichen – so dass durch das Erzählen Details so konkret werden, wie der größere Zusammenhang eines Bildes, einer Handlung, einer Landschaft. So entsteht Anschaulichkeit, Identifikation, Sympathie. Und, in diesem Fall: ein wirklich genaues, lebendiges Bild von Menschen und Gesellschaft im Amerika der beginnenden 90er Jahre.

  3. Stadt der Engel erinnert aber auf fast jeder Seite an die dringlichen Fragen einer nur scheinbar lange zurückliegenden Zeit. Das macht das Buch so unzeitgemäß, ja, auch rückwärtsgewandt, wie es nur sein kann – die Frage ist, ob man das Christa Wolf zum Vorwurf machen kann. Mit 80 Jahren legt sie einen erstaunlich dichten Erinnerungsbericht vor, der zur Gegenwart kaum etwas zu sagen weiß. Und dass die Zeiten, an die sie sich erinnert, so unsagbar weit weg erscheinen, lässt einen erschüttert nach den „blinden Flecken“ und Verdrängungen unserer Gegenwart fragen. (Womit es auch Zeit wird, diese unsägliche Aufzählung zu verlassen.)

VIELLEICHT IST ES UNS AUFGEGEBEN, DEN BLINDEN FLECK, DER ANSCHEINEND IM ZENTRUM UNSERES BEWUSSTSEINS SITZT UND DESHALB VON UNS NICHT BEMERKT WERDEN KANN, ALLMÄHLICH VON DEN RÄNDERN HER ZU VERKLEINERN, SO DASS WIR ETWAS MEHR RAUM GEWINNEN, DER UNS SICHTBAR WIRD, BENENNBAR WIRD. ABER WOLLEN WIR DAS ÜBERHAUPT, KÖNNEN WIR DAS ÜBERHAUPT WOLLEN, IST ES NICHT ZU GEFÄHRLICH, ZU SCHMERZHAFT.

Während in Deutschland die Wiedervereinigung in vollem Gange ist, wird Christa Wolf in Amerika mit der Angst der Welt vor dem „neuen (Groß-) Deutschland“ konfrontiert. Noch frisch sind damals die Erinnerungen an die Wendezeit, die kurze Zeit, in der die Menschen mit offenen Augen nach etwas Neuem suchten – bevor „die Roulettetische an Zulauf gewannen“. Noch frisch sind die Utopien, aus zwei Gesellschaftssystemen ein neues, drittes zu kreieren. Eine Suche nach Denk- und Lebensentwürfen, der sich nicht nur die Wolf damals verbunden fühlte, sondern die man sich – so unwirklich, naiv, aus der Zeit gefallen sich das auch anfühlen mag – gerade heute sehnlichst wünscht.

Und da beginnt dieses Buch interessant zu werden. Denn die Erzählerin taucht tiefer hinab in ihre Erinnerungen. Und erinnert an die Kämpfe eines Jahrhunderts, die von einem Ernst, einer Leidenschaft, einer Tragik waren, die sich mit heutigen Begriffen gar nicht mehr ausdrücken lässt. Kämpfe von Menschen, die an eine andere Welt glaubten. Kämpfe von Systemen und Geheimdiensten, von Künstlern im Untergrund, im Widerstand oder auch im Dialog, bei denen es um etwas anderes ging als um Kunst oder Erfolg. Die Wolf erinnert daran, dass hinter den Geschichtsbuch-Einträgen zu Kommunismus, Karl Marx oder Lenin Auseinandersetzungen und einstmals ernstgenommene Gedankengebäude stehen, die Teil der europäischen Kulturgeschichte – und dennoch heute fast vergessen sind.

Während Christa Wolf um die Frage kreist, wie sie das vergessen konnte: ihren frühen Kontakt zur Stasi (was dann ja auch eine erbitterte Auseinandersetzung um die DDR-Literatur im wiedervereinigten Deutschland auslöste) – wirft sie eigentlich die Frage auf, wie wir das vergessen können: das Denken von Jahrhunderten im Kampf für eine bessere Welt.

Klingt pathetisch und abgelutscht? Deshalb wohl ragt dieses Buch in die Gegenwart hinein, als käme es aus einer anderen Welt. Spricht das für die Gegenwart? Und was tun wir in Zukunft?