Stürmische Meere

Geschichten von jungen Bootsflüchtlingen

"Grenzen öffnen! Nicht nur im Denken."

Diesem Motto hat sich der 2017 gegründete Orlanda Verlag verschrieben, einer der Preisträger des Deutschen Verlagspreises 2021. Geschlechtergerechtigkeit, Migration, Diversität sind einige der Themen, zu denen das kleine Team um Annette Michael bisher zahlreiche Veröffentlichungen vorgelegt hat – darunter von ganz verschiedenen Autoren wie Barbaros Altuğ, Danny Ramadan oder der Friedenspreisträgerin Tsitsi Dangarembga. Zu den vielen Romanen und Sachbüchern, die allesamt die Perspektive der Leser*innen zu weiten beabsichtigen, gesellen sich seit 2021 auch Kinderbücher, die die Themen des Verlags nun auch in zeitgemäße Erzählweisen und Bilderbücher für Kinder übersetzen.

Mary Beth Leatherdale, Eleanor Shakespeare: Stürmische Meere. Geschichten von jungen Bootsflüchtlingen. Aus dem Englischen von Barbara Küper. Orlanda Verlag 2021

So versammelt etwa das Sachbuch Stürmische Meere "Geschichten von jungen Bootsflüchtlingen" – was in der faktenreichen Aufbereitung, kombiniert mit den authentischen Geschichten geflüchteter Kinder, auch für erwachsene Leser*innen verstörend und informativ zugleich sein dürfte. Denn die Autorin Mary Beth Leatherdale erzählt von fünf ganz verschiedenen Einzelschicksalen, die jeweils auf mehren Doppelseiten Platz finden, ergänzt durch eine historische Einordnung.

"Wenn du dies liest, hast du – genau wie ich – vermutlich in der Lotterie gewonnen. ... Ich meine einen Glücksfall, auf den du keinen Einfluss hattest: dass du an einem relativ friedlichen und ziemlich wohlhabenden Ort der Welt geboren wurdest oder dorthin eingewandert bist. Neben allem anderen, was an dir einzigartig ist, macht dich das zu etwas ganz Besonderem",

schreibt Leatherdale in ihrer Einführung. Denn: Migration zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Menschheit - ein Glück (und keine Selbstverständlichkeit), wenn jemand in Frieden dort lebt und glücklich wird, wo er geboren wurde.

Vom 17. Jahrhundert, als die Hugenotten vor religiöser Verfolgung fliehen mussten, über die Katastrophen des 20. Jahrhunderts (neben der Judenverfolgung etwa der Vietnamkrieg oder der Kalte Krieg) bis hin zu den Flüchtlingsbewegungen aus Afrika, Syrien oder Afghanistan spannt Leatherdale zusammen mit der Illustratorin Eleanor Shakespeare den Bogen. Die fünf Geschichten von Kindern auf ihrer Flucht böten für sich genommen schon Stoff für mehrere (Kinder-) Bücher. Indem die Protagonist*innen selbst zu Wort kommen und ihre Spuren bis in die Gegenwart verfolgt werden, entsteht eine Unmittelbarkeit, die sorgsam gerahmt werden durch knappe Informationen über politische Hintergründe, wichtige Akteure und – in diesem Kontext, nicht nur für ein Kinderbuch, leider nicht selbstverständlich – internationales Recht.

Nach der Lektüre dieser 60 Seiten, die sich laut Verlag an Leser*innen ab 11 Jahre richten, hat man nicht nur fünf Lebenswege kennengelernt, sondern auch einiges über Geschichte und Politik mindestens der letzten hundert Jahre gelernt. Und darüber, wie Politik und Lebenswege ineinandergreifen oder sich im Wege stehen. Das ist oft erschütternd, manchmal herzzerreißend und dennoch Anlass zur Hoffnung: gut, dass all dies dank solcher Veröffentlichungen seinen Weg zu den Menschen findet