Sticht in meine Seele

Der Genozid an den Armeniern in den Jahren 1915 / 1916: ein unfassbares Ereignis zu Beginn des 20. Jahrhunderts, das die Blaupause lieferte für die Verbrechen, die im Laufe des Jahrhunderts folgen sollten. Unfassbar vor allem deshalb, weil es – trotz Holocaust oder Screbenica – auch 100 Jahre später noch keineswegs selbstverständlich war, die brutale, systematische Ausrottung und Vertreibung der armenischstämmigen Bevölkerung des damaligen Osmanischen Reiches als Völkermord zu benennen und zu verurteilen. In der Türkei wird das bis heute vermieden – und auch der Deutsche Bundestag rang sich, man erinnert sich, erst in den Jahren 2015 / 2016 dazu durch, die Ereignisse weitgehend ohne Rücksicht auf diplomatische Komplikationen korrekt einzuordnen. Die Komplikationen blieben nicht aus.

Wie nähert man sich einer solchen historischen Katastrophe, die bei den Betroffenen noch immer für unsagbares, kaum darstellbares, nicht zu erfassendes Leid steht und bei anderen noch nicht einmal in den Geschichtsbüchern angekommen ist? Wie wird man der Komplexität des Geschehenen und der persönlichen Betroffenheit gerecht? Der kanadische Regisseur Atom Egoyan hat sich 2002 in dem nicht ganz geglückten Film Ararat mit der Möglichkeit des Erinnerns auseinandergesetzt; Navid Kermani reiste in Entlang den Gräben nach Armenien, um in der Gegenwart die Spuren des Vergangenen zu finden.

Eine Reise in die Vergangenheit

Der in Berlin lebende türkische Autor Barbaros Altuğ schickt in seinem Roman Sticht in meine Seele (Orlanda Verlag 2020) die Journalistin Derin aus Frankreich nach Istanbul – auf eine Reise, die sie weit in die Geschichte, über Istanbul weiter nach Eriwan und tief in die eigene Biographie führen wird. Derin, als Türkin in Frankreich prädestiniert dafür, über die Beerdigung eines ermordeten türkischen Journalisten zu berichten, wird auf der Reise mit den Wurzeln ihres eigenen Schmerzes, mit den Auswirkungen der Geschichte in in ihrer eigenen Familie konfrontiert.

Den Schmerz, den du und ich empfinden, meine Liebe, versteht niemand außer uns beiden,

gibt ihr am Vorabend der Abreise ein Überlebender des Genozids mit auf den Weg.

Barbaros Altuğ: Sticht in meine Seele. Orlanda 2020

Wie erzählt man von einer historischen Katastrophe? Indem man Vergangenheit und Gegenwart zusammenführt, das scheinbar Unverbundene wie ein Puzzle zusammensetzt, Schmerzpunkte und Leerstellen lokalisiert, um die die Geschichten der Menschen kreisen wie Fragen um zu findende Antworten. Derin verlor ihren Vater 1983 bei einem Anschlag der Armenischen Geheimarmee zur Befreiung Armeniens – eine Kontextualisierung, die sich aus den knappen Anmerkungen zum Roman erschließt. Altuğ erzählt seine Geschichte zum Glück so, dass der Leser kein Vorwissen braucht, nach nur knapp 150 Seiten aber nicht nur viel über dieses immer noch unterbelichtete Kapitel der Geschichte sondern auch über seine Spuren in der neueren Geschichte gelernt hat.

Das Eis in uns

Wie erzählt Altuğ davon? Indem er der Frage nachgeht, was das Damals in in uns heute auslöst, wo das Damals noch immer am Werk ist. Derin, als Wandererin zwischen den Welten, ist hierfür prädestiniert. Im lebendigen Herz eines scheinbar weltoffenen, multikulturellen Europas lebend, nicht nur als Kind von Einwanderern sondern auch mit ihrer sexuellen Orientierung jenseits überkommener Normen, verbindet sie Tradition und Zukunftsoffenheit, so wie sie zwischen Beruf und Leben hin- und herspringt. Ein Gegenentwurf auch zur heutigen Türkei, wie sich in Diskriminierungs- und Unterdrückungserfahrungen zeigt, die beängstigende Kurzschlüsse zum Anfang des 20. Jahrhunderts zulassen. Gerade hierin, in der Konfrontation damaliger Abgründe mit heutigen politischen Entwicklungen wird deutlich, wie relevant die Auseinandersetzung mit dem Damals bis heute ist. Was natürlich nicht nur für den Umgang mit dem Völkermord an den Armeniern gilt.

Doch damit nicht genug. In Derins eigener Geschichte verbirgt sich eine Haltlosigkeit, die schwindeln lässt – und die über die Armenienfrage hinaus für viele Leser*innen nachvollziehbar sein dürfte, die zwischen geschichtlichen Brüchen, globaler Beschleunigung, Identitätsverlust und Selbstverwirklichungslogik ihr Selbst in kleinen Puzzleteilen zusammenzufügen versuchen. Wie erzählt man von einer Katastrophe? Indem die große, konkrete Politik auch auf der individuellen, menschlichen Ebene erfahrbar wird.

Ein Stich in die Seele: das ist dieses Buch, in dem auf überraschende Weise eine fremde als die eigene Geschichte wiedergefunden wird – und das gleichzeitig zahlreiche Geschichten dem Abgrund der Vergangenheit entreißt. Geschichten vom Schlimmsten dessen, wozu der Mensch fähig ist.