Einbruch der Wirklichkeit

Es herrscht Krieg an den südlichen und östlichen Grenzen unseres Wohlstandsghettos, und jeder einzelne Flüchtling ist dessen Bote: Sie sind der Einbruch der Wirklichkeit in unser Bewusstsein.

Nicht erst seit der Friedenspreisrede empfiehlt sich Navid Kermani als Wanderer zwischen den Kulturen in der heutigen konfliktbeladenen Situation als Vermittler par excellence. Just in den Tagen vor der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels begibt er sich, zusammen mit dem Fotografen Moises Saman auf den Flüchtlingstreck - in umgekehrter Richtung. Ungarn, Kroatien, Serbien, Mazedonien, Griechenland, Türkei sind die Stationen einer zehntägigen Reise, von der Kermani kurz darauf im Spiegel berichtete. Jetzt liegt die Reportage erweitert als Buch vor. Als wichtiges Buch: denn Kermani berichtet mit genauem Blick, mit Empathie, Engagement und Entschiedenheit gleichermaßen von den Ambivalenzen und Tragödien einer Wirklichkeit, die durch keinen Zaun, keine Obergrenze, kein Asylpaket daran gehindert werden kann, zu uns zu kommen.

Menschen, die so verzweifelt sind, können Sie nicht aufhalten. Wenn sie an der einen Stelle nicht durchkommen, suchen sie sich eine andere. Und wenn Sie Mauern errichten, bleiben sie vor den Mauern sitzen, bis wir den Anblick nicht mehr aushalten. Letzlich ist die einzige Möglichkeit, Flüchtlinge aufzuhalten, auf sie zu schießen,

zitiert Kermani den kroatischen Innenminister Ranko Ostojic.

Unser Wohlstandsghetto ist auf Dauer durch bloßes Hochziehen der Grenzen nicht aufrecht zu erhalten,

so betont er im Deutschlandfunk. Anhand von Gesprächen mit Flüchtlingen und Helfern, mit Polizisten und Politikern vermittelt er ein Bild vom Wahnsinn des europäischen Asylsystems:

Die europäischen Asylvereinbarungen sind nichts anderes als eine massive staatliche Förderung der Schlepperindustrie.

Mit wenigen Strichen zeichnet Kermani ein Bild von den Härten, den Beschwerlichkeiten, der Ausweglosigkeit und den Hoffnungen, die den Weg der Flüchtlinge pflastern. Die Völkerwanderung - sie findet statt; wir mögen uns noch so überfordert fühlen: die Menschen, die zu uns flüchten, sind die Realität einer krisengeschüttelten Welt. Leise ist die Hoffnung, mit der Kermani, zurück in Deutschland, sein Buch beschließt:

So spektakulär Deutschland im September die Willkommenskultur zelebrierte, so kollektiv scheint es sich drei Monate später überfordert zu fühlen … Aber vielleicht war die Euphorie der Deutschen genauso medial inszeniert und übertrieben wie jetzt ihr Unmut.