Die Wahrheit ist

Da flattert mir inmitten der Verlorenheit des Corona-Frühjahrs eine E-Mail ins Haus, die das neue Buch des israelischen Schriftstellers Eshkol Nevo anpreist:

Ein Schriftsteller sitzt zuhause, stiert auf den Bildschirm und beantwortet online Fragen. Seine Antworten sind ehrlich, schonungslos, verblüffend und originell. Zugleich entspinnt sich eine Romanhandlung im Hintergrund, die zum Kern des Menschseins wie des Schriftstellerseins vordringt.

Ich denke: Selbstauskünfte eines Schriftstellers, ein ausführliches Interview über Leben und Schreiben, und dann auch noch ein Roman über den Kern des Menschen – das klingt nach inspirierender Lektüre! Und bestelle das Buch...

Die Wahrheit ist: Glaube niemals einem Schriftsteller, wenn er das Wort Wahrheit in den Mund nimmt. Noch dazu, wenn er aus einer Kultur stammt, in der dem Erzählen immer schon ein ganz eigener Wahrheitsbegriff zugrunde liegt und Vieldeutigkeit, Ambivalenz und Illusion konstituierender Teil des Spiels mit der Wahrheit sind. So oder so ähnlich auch zu finden bei Navid Kermani oder Nevos Landsmann Dror Mishani.

Die Wahrheit ist: Wenn es so einfach wäre, die Wahrheit zu nennen – über das Leben, die Liebe, die Welt und nicht zuletzt sich selbst – dann bräuchten wir die Literatur nicht. Ausgefuchste Lügner sind sie, die Erzähler, in den von ihnen errichteten Spiegelkabinetten verlieren wir uns und finden uns (mit etwas Glück) wieder.

"Was ist Ihr Antrieb beim Schreiben? Wie sieht ein Arbeitstag bei Ihnen aus?"

So lauten die ersten, unverfänglichen Fragen. Schon beim Arbeitstag aber verliert sich der Autor vor dem Bildschirm in der eigenen Antwort bzw. in der Beschreibung seines recht unproduktiven Alltags.

... Und nach ein paar Minuten lande ich wieder bei diesem Interview hier, das irgendein Onlineredakteur, der Fragen von Usern an mich sammelt, mir geschickt hat. Und darauf antworte ich ein bisschen. Ein, zwei Fragen. Maximum drei. Und schon ist es halb zwei und meine mittlere Tochter kommt aus der Schule.

Anstelle des neuen Romans wird also dieser fiktive Fragebogen zum Projekt des Schriftstellers. Wie autobiographisch sind Ihre Bücher? Wie gelingt es Ihnen als Mann, Frauengestalten zu schreiben? Wo schreiben Sie? Hatten Sie schon mal eine Schreibblockade? Verwischt sich manchmal die Grenze zwischen Wahrheit und Lüge bei Ihnen?

Natürlich: auch dieser Roman ist – wie schon der zuletzt besprochene Jokerman von Stefan Kutzenberger – ein Spiel mit dem doppelten Boden, den zahlreichen Spiegeln zwischen Fiktion und Realität. Wie der Autor des Buches heißt auch sein Protagonist Nevo – und dessen ausführliche Antworten auf die Online-Fragen liegen nun gesammelt in einem Band vor, der es nicht nur in den (realen) Buchhandel sondern auch auf so manche Preisliste geschafft hat.

Die Wahrheit ist ist das Dokument einer vielfachen Krise – und als solches, anders als wie oben beschrieben erhofft, eine zwar auch inspirierende, aber vor allem ziemlich heftige, einiges abverlangende Lektüre. Denn Die Wahrheit ist zeigt, wie schwer es ist, die Wahrheit der eigenen Existenz zu benennen und zu klären. Letztlich sind Schriftsteller auch nur Menschen.

"Dieses Gefühl, dass alles ins Wanken gerät."

Im ganzen letzten Jahr bin ich wie ein Musiker, der bei einem Stück aus dem Takt gekommen ist, mitten im Konzert, vor Hunderten von Zuhörern.

Der Autor spricht von Dysthymie, man findet auch Züge einer Mid-Life-Crisis; eine ausgewachsene Beziehungsstörung – sowohl zu seiner Frau Dikla als auch zu den Kindern – steht als Elefant im Raum, ein Freund liegt im Sterben und die politische Lage ist auch, nun ja, verfahren. Und alles, was dieser Autor hat, um sein Leben zu ordnen, ist ein manischer Drang zum Erzählen, geradezu eine Sucht, die Wahrheit in immer ausschweifendere Erzählstränge zu verpacken, bis er Tatsachen nicht mehr von Erfindungen zu scheiden vermag. Oder das zumindest vorgibt.

Ich hätte auf diese Fragen die üblichen, vorgefertigten Antworten geben sollen – aber stattdessen habe ich angefangen, ehrlich zu antworten. Und was bloß ein Interview und nicht mehr hätte werden sollen, gerät nach und nach – denn offenbar kann ich nicht anders – zu einer Geschichte.

Die Wahrheit ist: Nevo, also dieser fiktive Autor im Roman Eshkol Nevos, kann nicht anders als zu erzählen, und was immer auch das Fünkchen Wahrheit ist, verändert sich, verliert sich in der Erzählung. Irgendwann, als Antwort auf irgendeine Frage, erzählt der Autor dann wiederum, wie ihm genau das – der freie, rücksichtslose Umgang mit der Wirklichkeit, den er hier im Buch ja ausführlich demonstriert – auch in der Beziehung zu seinen Kindern unterläuft. Was ist nun Wahrheit? Was ist Erfindung? Was ist mit dem One-Night-Stand, der zwischen ihm und seiner Frau steht? Die handelnden Personen in diesem Roman, sie sind Marionettenfiguren, Projektionen eines maximal unzuverlässigen Erzählers.

Was für ein Vater sind Sie?

Am deutlichsten wird das, als er die Sitzung bei einer Psychologin schildert. Eigentlich soll es dabei um seinen Sohn gehen, doch schon bald dreht sich das eskalierende Gespräch um den zunehmend verunsicherten, sich aggressiv selbst verteidigenden Vater, der seinem Sohn unentwegt Geschichten erzählt, um so die Beziehung aufrecht zu erhalten. Und natürlich, jede Reflektion über diese Situation, ist selbst schon wieder Geschichte:

Ich weiß schon nicht mehr, wie ich ... mich ihm gegenüber verhalten soll. Und nicht nur ihm. Generell, ich weiß nicht mehr, wie ich mich der Welt gegenüber verhalten soll. Auch gegenüber Dikla. Anstatt ihr zu sagen, ich hätte das Gefühl, dass sie sich zunehmend von mir entfernt, habe ich eine Geschichte erfunden, von der ich dachte, sie bringt sie zu mir zurück. Aber das hat sie nur noch weiter auf Abstand gehen lassen.

Er sei ein Lügner geworden, ein zwanghafter Geschichtenerzähler, so konstatiert Nevo, während ihm sein Leben um die Ohren fliegt. Die Wahrheit ist ist kein leichter Stoff, der Roman seiner Fabulierlust manchmal schwer zu ertragen. Wie ein Mensch aber versucht, einer Wahrhaft habhaft zu werden und zunehmend den Boden unter den Füßen verliert, das ist äußerst bewegend. Oder doch wieder nur eine Geschichte?

Eshkol Nevo: Die Wahrheit ist. Roman. dtv 2020