Die kostbarste Freiheit
Die wirklich wichtige Freiheit erfordert Aufmerksamkeit, und Offenheit und Disziplin und Mühe und die Empathie, andere Menschen wirklich ernst zu nehmen und Opfer für sie zu bringen, wieder und wieder, auf unendlich verschiedene Weisen, völlig unsexy, Tag für Tag. Das ist wahre Freiheit. Das heißt es, Denken zu lernen.
Noch einmal so eine Standardeinstellung, um die es David Foster Wallace in seinem inspirierenden Vortrag Das hier ist Wasser geht: In der Regel sind wir so beschäftigt, dass wir recht selten bemerken, was um uns umher eigentlich vor sich geht. Im Alltag, in der Beziehung, im Verkehr: zunächst kommt das Ich, dann kommt der Rest. (Das hatte ich letztens schon mal - nämlich hier.)
Wovon ich spreche, wenn ich Ich sage
Ich, meins, mir selbst - viele unserer Sätze kreisen um das wahrnehmende, handelnde, reflektierende Subjekt, das wir im Normalfall nur in der ersten Person Singular kennen. Ich bin: nicht viele, sondern ein ganz bestimmtes Individuum mit seiner ganz individuellen Sicht auf die Welt.
Ich bin das Ergebnis meiner (und anderer) Handlungen und Erfahrungen, mein Blick geschult an dem, was ich sah, meine Gedanken nicht unbedingt schlauer als am Tag zuvor. Ich selbst bin es, der den Blick lenkt und prägt - und so in jedem verflixten Moment darüber entschiedet, was ich sehe, was letztlich in diesem oder einem anderen Augenblick für mich existiert und eine Rolle spielt.
Was ich erfahre, bin zunächst mal permanent ich selbst.
Es gibt diese Zen-Geschichte von dem Reiter auf seinem Pferd, der in rasendem Tempo durch die Welt reitet. Auf die Frage, wo es hingehe, antwortet der Reiter: Er wisse es nicht, man müsse das Pferd fragen.
Ich - aus Gewohnheit
Fragt man das Pferd, so stellt sich heraus (Psychoanalyse, ick hör dir trapsen…), dass das recht forsche Alter Ego des Reiters einfach nur blindlings mit ihm durchgegangen ist: Ein Ziel kennt auch das Pferd nicht, aus Gewohnheit ist es davon ausgegangen, dass der Reiter schon eins haben würde.
Aus Gewohnheit gehen wir, tagein tagaus, davon aus, dass sich unsere Erwartungen, unser (subjektiver) Blick auf die Welt und besagte (objektiv vorhandene) Welt schon irgendwie zusammen raufen werden, das eine halbwegs dem anderen entsprechen wird; daraus entsteht beileibe kein Idealzustand, sondern in der Regel eben jene holprige Realität, mit der wir dann im schlimmsten Fall so viel zu tun haben wie mit dem Unbekannten, der vor uns in der Schlange im Supermarkt steht. Entschuldigung, ich wollte Sie nicht …
Aus Gewohnheit reitet ein jeder auf seinem Pferd durch die Wild-West-Welt der individualisierten modernen Gesellschaft, durch den feuchten Traum eines jeden Konsumenten: Ich brauchte jetzt noch hier etwas, und da etwas von, damit es sich mein Pferd heute abend neben mir gemütlich machen und zufrieden und beruhigt schlafen kann: Was haben wir heute nicht alles erlebt, erreicht, erbeutet …
Einfacher, leichter, realer
Wie wäre es aber, wenn nicht unsere Konditionen, unsere eingeübte Perspektive, unsere Gewohnheiten auf die Welt reagieren würde, wenn das Ich mal zurück treten würde, und die Dinge einfach so passieren dürften? Ungeachtet unserer Meinung, unserer Bewertung, unseres Kommentars?
Der Ausweg aus der oben geschilderten Standardeinstellung ist zunächst einmal recht einfach - er ist eine Frage von Aufmerksamkeit und Achtsamkeit, von Offenheit, Respekt und Achtung. Diese Art von Achtung nennen Joshua Fields Millburn und Ryan Nicodemus in ihrer Essay-Sammlung Simplicity die kostbarste Freiheit von allen:
it’s the difference between living a meaningful life and being dead inside.
Die Autoren kommen damit zum Herzen dessen, was für sie Minimalismus und Einfachheit bedeuten: zu einem Weg eines bewussteren Lebens, mit dem Fokus auf dem, was wirklich etwas bedeutet.
Minimalismus is a tool to take a seemingly intricate and convoluted world, cluttered with its endless embellishments, and make it simpler, easier, realer.
Minimalismus ist in dieser Lesart ein Mittel, um bewusste Entscheidungen zu ermöglichen. Entscheidungen, die etwas damit zu tun haben, ob ich frühmorgens auf mein Pferd namens Gewohnheit steige und ohne Pause durch Raum und Zeit galoppiere, oder ob ich dem Pferd, dem Hunger, dem Ehrgeiz und dem Begehren mal eine Pause gönne und schaue, was die Welt mir noch so zu sagen hat.
Bewusst zu leben beginnt mit der Beobachtung, dass es vielleicht gar nicht so sehr um mich geht, wie mein eingeschnapptes Ich es mir nahelegen möchte, sondern um all das, was um mich herum, jenseits meines eingeübten Blickes, geschieht.