Wer ohne Sünde ist
Meine Krimibestenliste
Auf der Suche nach neuem Lektürestoff vor dem Einschlafen plündere ich seit einiger Zeit regelmäßig die Krimibestenliste von Deutschlandfunk Kultur. In diesem Monat fanden so zwei neue Krimis den Weg auf meinen Nachttisch, von denen, so viel vorweg, nur eins auch auf meiner persönlichen Bestenliste landen würde. Denn während ich die 300 Seiten von Jan Costin Wagners Am roten Strand an nur wenigen Abenden verschlang, quälte ich mich eher durch den 600seitigen Schwedenkrimi Wer ohne Sünde ist von Asa Larsson.
Wer ohne Sünde ist
Okay: bei Larsson fehlt mir einfach der Anschluss. Wer ohne Sünde ist ist der sechste (und letzte) Band einer Reihe rund um die Staatsanwältin Rebecka Martinsson, die von Stockholm in die nordschwedische Stadt Kiruna gezogen ist. Wie das zu so einer Serie gehört, hat Larsson jede Menge Figuren zu verabschieden und Geschichten zu Ende zu erzählen – und begräbt dabei die eigentliche Handlung unter einem Bündel von (für den Neueinsteiger) mehr oder weniger interessanten Erzählsträngen. Da geht es um die Stadt, die für den Erzabbau um einige hundert Meter verlegt wird, da wird chronologisch die Lebensgeschichte eines Boxers erzählt, dessen verschwundener Vater wird tot in einer Tiefkühltruhe geborgen, unsympatische, skrupulöse Vorgesetzte haben ihren Auftritt, die sich dann aber doch erwartungsgemäß als ganz korrekt entpuppen ... Konkurrenz und Freundschaft, Prostitution, Drogenhandel, Geldwäsche wären weitere Themen... Puh.
Na klar: Da ist keiner, der ohne Sünde ist, in diesem Sündenpfuhl im hohen Norden. Die (schwedische) Natur ist eben auch nicht mehr, was sie einst war, sondern: ausgebeutet und mitgenommen. Alles andere als idyllisch. Vielleicht wäre ein interessanter Roman heraus gekommen, wenn das Buch um die Hälfte gekürzt worden wäre. So aber tut die steife Übersetzung ihr übriges, um den letzten Funken Spannung im Keim zu ersticken. Stattdessen: zwischen endlosen Dialogen wird jedes Detail auserzählt, jede Frage unzweifelhaft beantwortet – ein durchschnittlicher Fernsehkrimi macht das auch nicht schlechter. Tatsächlich funktionieren die Verfilmungen der Martinsson-Serie genauso – auch nicht mein Fall. Nein: In diesen Zyklus steige ich auch im Nachhinein nicht ein.
Am roten Strand
Auch Jan Costing Wagner kennt sich in Skandinavien aus: zahlreiche seiner Krimis spielen in Finnland. Der Campingplatz Am roten Strand hingegen befindet sich am Rand von Wiesbaden und ist das Zentrum eines erschreckend weite Kreise ziehenden Falls von sexualisierter Gewalt gegen Kinder. Die Polizisten um Ben Neven (ebenfalls Ermittler in Serie) haben nicht nur den Betreiber einer Internetplattform festgenommen und ein entführtes Kind befreit, es gelingt ihnen auch, weitere Beteiligte zu stellen und einen lange vorbereiteten Missbrauch zu vereiteln.
Doch Wagner geht es in seinem aus zahlreichen Perspektiven erzählten Kriminalroman um etwas anderes als um das bloße Nachstellen eines an diverse reale Vorbilder erinnernden Falls. Auch hier muss sich jede Figur fragen lassen, ob und wie weit er oder sie ohne Sünde ist. Wo liegt die Grenze zwischen Opfer und Täter? Was geschieht mit der Wahrnehmung und den Gefühlen der Ermittelnden bei einem solchen, alle Tabus überschreitenden Fall? Und was ist, wenn auch ein Ermittler ungeahnte Abgründe in sich entdeckt und seine Macht missbraucht?
Sicher: Manches in Wagners Roman wirkt wie am Reißbrett konstruiert. Aber das bleibt nicht ohne Effekt: denn so klar die Linien in diesem vergleichsweise schmalen Buch gezogen werden, so unscharf wird das vermeintlich Klare aus der Nähe. Dem Autor genügen oft wenige Sätze, um ganz subtil die Spannung zu erhöhen und tiefschwarze Klüfte aufzureißen, wo kurz zuvor noch lichte Selbstverständlichkeit zu herrschen schien. Eine Lektüre, die schmerzt, fassungslos macht und dennoch nach mehr verlangen lässt. "Krimi ohne Sicherheitsnetz", heißt es auf der Seite der Krimibestenliste. Dem ist nichts hinzuzufügen.
Asa Larsson: Wer ohne Sünde ist. Aus dem Schwedischen von Lotta Rüegger und Holger Wolandt. München 2022
Jan Costin Wagner: Am roten Strand. Berlin 2022