Bücher des Jahres 2015 (2): Glaube und Liebe

Nicht unbedingt von öffentlichem Interesse: die Liste der Bücher, die ich gelesen habe. Meine Chronik der gelesenen Bücher mag dennoch manchen zum Verweilen einladen - oder auf neue Bücher stoßen lassen. Ein Thema, das sich durch das letzte Jahr zieht wie ein roter Faden: der christliche Glauben.

2015 tastete ich mich an etwas heran, das ich nie verstand und nie verstehen wollte: das Christentum. Auch ein Resultat meiner Zen-Praxis: die Frage nach dem Glauben. Wie geht das: Glauben? Wieso glaubt man an Gott? Was glaube ich da eigentlich?

Lange Jahre habe ich um das Christentum einen großen Bogen gemacht. Die Vorstellung eines Gottes war mir fremd. Sünde? Beten? Was soll mir das? Das Christentum war für mich ein leerer Fleck auf der Landkarte unserer Kultur.

Christian Nürnberger: Die Bibel – Was man wirklich wissen muss

Der Titel dieses Buches mag abschrecken: Was muss man schon wirklich wissen? Was kann man überhaupt wissen? Der Theologe Christian Nürnberger hat vor einigen Jahren schon diese knapp gehaltene Einführung in die Bibel geschrieben, die blinde Flecken mit Struktur und Leben füllt: mit vermeintlichem Allgemeinwissen über die Grundlagen unserer Kultur. Das Alte Testament wird hier begreifbar als kulturelles Gedächtnis eines von Gott auserwählten Volkes. Das Neue Testament als Erzählung eines radikal anderen Lebensentwurfs, der auch heute noch (wieder?) von größter Brisanz ist:

Gott zu gehorchen heißt, sein Leben wegzuwerfen, es an ihn zu verschwenden, sich ihm ganz, mit Haut und Haaren, zu verschreiben. Kommt herunter von euren lächerlichen Selbstverwirklichungs- und Egotrips, ruft Gott, ruft Jesus den Menschen zu. Hört auf mit dieser blödsinnigen Suche nach euch selbst. Wenn ihr euch wirklich selber finden solltet, werdet ihr über eure Funde ziemlich enttäuscht sein. Darum lasst das Kreisen um euch selbst, es führt zu nichts.

Über Jesus’ Tod hinaus verfolgt Nürnberger die Geschichte der ersten christlichen Gemeinde. Engagiert und deutlich sind seine Worte, nicht nur wenn er Altes und Neues Testament auf ihre Relevanz für die heutige Kirche abklopft: das von den frühen Christen angehäufte „Glaubenskapital“ sei aufgebraucht, so Nürnberger. Die Kirche von heute suche ihr Heil in Marketing und Wellness-Angeboten. Ihr „Alleinstellungsmerkmal“ allerdings setze die Kirche damit eher aufs Spiel:

Die Kirche könnte in dem Buch lesen, dass das Volk Israel 1500 Jahre nach seinem Exodus aus Ägypten in einer ähnlichen Situation war wie die Kirche heute. Damals hat ein Mensch namens Johannes gesehen, dass sich der Glaube seines Volkes erschöpft hatte. Er überlegte, wie sein Volk zu neuen Kräften kommen könnte. Und er fand eine Lösung, die jener der heutigen Kirche diametral zuwider läuft. Statt den Leuten hinterherzurennen und ihnen die Botschaft Gottes wie Sauerbier anzutragen, ging er hinaus an den Rand der Wüste und mutete den Leuten zu, sich zu ihm auf den Weg zu machen.

Nürnberger geht es am Ende seiner „Einführung“ in die Bibel um nichts weniger als einen Gegenentwurf zur heutigen Konsumgesellschaft. Ein Gegenentwurf, den die Kirche in seinen Augen leider schuldig bleibt.

Christian Lehnert: Korinthische Brocken

Die gleiche Diagnose stellt Christian Lehnert in seinem großartigen Essay über den 1. Korinterbrief des Paulus.

Die Menschen dort abholen, wo sie sind … Das macht nur der Teufel,

so zitiert Lehnert Peter Sloterdijk in einer Fußnote seines vollgepackten, dichten Essaybands. Ein Abenteuer in Bibel-Exegese, eine Exkursion in die Tiefen der Historie, ein autobiographischer Versuch und eine Meditation über Sprache und Geschichte - der Essay über Paulus will vieles sein und erschöpft sich darin nicht.

Mit dem Apostel Paulus als Gewährsmann verortet Lehnert im Herzen der christlichen Gemeinde das Gotteserlebnis: eine Wunde, die es offen zu halten gilt, eine Frage, die nicht nach einer Antwort sucht, ein immerwährendes Ärgernis, eine nicht einzulösende Potenz - eine Bewegung ins Offene.

Wenn Lehnert aus der Sprache des 1. Korintherbriefs die „große, pulsende Erwartung“ herausliest, die den Raum öffnet für den Einbruch Gottes in die Zeit, dann benennt er klar den inneren Widerspruch der Kirche: als Institution neigt sie zur Erstarrung, als Gemeinde aber ist sie ein lebendiges Geschehen. Ein Geschehen aus der Liebe / zur Liebe hin.

Etty Hillesum: Das denkende Herz der Baracke. Die Tagebücher 1941 - 1943

Etty Hillesum war eine in Amsterdam lebende Jüdin, die über einen Zeitraum von knapp zwei Jahren eine umgemein intensive Zwiesprache mit ihren Tagebüchern - und darin mit Gott - hielt, bevor sie 1943 in Auschwitz starb. Lebensfreudig, sinnlich, ohne Rücksicht auf Konventionen: Hillesum begegnet der Welt mit fast kindlicher Hingabe, gleichzeitig aber leidenschaftlich auf ihrer Selbstbestimmung beharrend. Ihre Tagebücher geben nicht nur ein Bild der erschütternden Lage der Juden im besetzten Holland - sie sind vor allem ein beeindruckendes Zeugnis davon, was der Glaube in einer unmenschlichen Welt zu leisten vermag:

Man muss die Dinge nun einmal belassen, wie sie sind, und sie nicht zu unmöglichen Höhen hinaufschrauben wollen; erst wenn man sie hinnimmt, wie sie wirklich sind, offenbaren sie ihren wirklichen Wert. Wenn man von etwas Absolutem ausgeht, das eigentlich nicht existiert und das man auch gar nicht will, kommt man nicht dazu, das Leben in seinen wahren Proportionen zu leben.

Wohlgemerkt: Hillesum schreibt nicht von Problemen auf der Arbeit, von Bürostress oder der Entfremdung im Alltag. Sie schreibt inmitten von Leiden und Tod, von blindem Hass und erschütternder Gewalt. Sie weiß um das alles, und dennoch hält sie - im Verbund mit Rilke und dem Neuen Testament an der Liebe fest:

Wir müssen durchdrungen sein von dem Gedanken, dass jeder Funken Hass, den wir der Welt hinzufügen, sie noch unwirtlicher macht, als sie ohnehin ist.

Im Laufe dieser beiden Jahre wird es enger um Etty Hillesum; sie schreibt „ohne Hoffnung, ohne Verzweiflung“ (Heiner Müller). Mit fast naiv anmutender Hingabe sucht sie das Leiden zu akzeptieren und eins zu werden mit dem Leben - also auch mit dem Leiden, auch mit ihren Feinden. Wehrlos und ohne Unterschied liebt sie - bis zu ihrem Ende.

Wörter wie Gott und Tod und Leiden und Ewigkeit muss man wieder vergessen. Man muss wieder so einfach und wortlos werden wie das wachsende Korn oder der fallende Regen. Ausschließlich nur noch sein.

Christoph Quarch: Liebe - der Geschmack des Christentums. Plädoyer für eine erotische Spiritualität

Noch immer tue ich mich mit dem Wort Gott schwer. Verstehe ich Gott aber als Namen für das Namenslose, das je nach Blickwinkel als Nichts, als Leere, als Sein, als Leben oder auch als Liebe beschrieben werden kann, dann verstehe ich den christlichen Glauben als eine Möglichkeit, andere Zugänge zu uns selbst und unserer Welt zu finden. Zugänge jenseits unseres Egos. Zugänge, die den Gegensatz zwischen mir und dem Anderen, zwischen dem eigenen und dem Fremden aufheben. Wege aufeinander zu, die wir alle so dringend benötigen.

Wenn Christoph Quarch die Liebe als den „Geschmack des Christentums“ ausmacht und eine „erotische Spiritualität“ beschreibt, mag das auf den ersten Blick merkwürdig klingen. Mit voller Überzeugung legt Quarch dar, dass „Christsein bei Lichte besehen nichts anderes bedeutet, als lieben“.

Wie er schon in hin & weg schrieb, ist für Quarch der Eros die spirituelle Kraft schlechthin: und Jesus als Liebenden, als leidenschaftlich aus der Liebe Lebenden zu zeichnen, ist von ungeheurer Strahlkraft und ungemein inspirierend.

Indes: dass die Kirchen sich zunehmend darauf beschränken, als moralische Autoritäten auf dem Markt der Meinungen wahrgenommen zu werden, führt dazu,

dass die Kirchen sich vollends überflüssig machen werden, wenn sie nicht bald dahin zurückkehren, ihr Hauptaugenmerk auf den Sinn und Geschmack des Unendlichen zu lenken und nicht länger auf Gender-Mainstreaming und Sozialethik. Letzteres können nämlich auch andere - ersteres bald auch.

„Alleinstellungsmerkmal“ der Kirche sei es, so Quarch, dass sie den „Geschmack für das Unendliche“ wecken könne: für die Liebe. Für eine Kraft, die den Menschen in ein größeres Ganzes stellt und den Klauen von Ökonomie und Wettbewerb entreißt. Das kann eine „säkuläre Ethik“, wie sie der Dalai Lama dieses Jahr propagiert hat, nicht leisten.

Damit schließt sich denn auch - bei allen Unterschieden - der Kreis zu Nürnberger. Quarch erzählt von einem Stück Lessings, in dem es heißt,

der Lieblingsjünger Jesu, Johannes, habe sein Apostelamt zum Ende seines Lebens hin immer mehr auf das Wesentliche konzentriert. Seine Predigt, sagt Lessing, „kam immer ganz aus dem Herzen. Denn sie war immer einfältig und kurz, und wurde immer von Tag zu Tag einfältiger und kürzer, bis er sie endlich gar auf die Worte einzog - … Kinderchen, liebt euch! Und darauf angesprochen, ob er nichts anderes mehr zu sagen wisse, habe Johannes nur erklärt: „…weil das allein, das allein, wenn es geschieht, genug, hinlänglich genug ist.“