Korinthische Brocken

Christian Lehnert

Die Menschen dort abholen, wo sie sind … Das macht nur der Teufel.

Zitiert wird hier aus einem Gespräch mit Peter Sloderdijk im Zusammenhang mit den Bemühungen der christlichen Kirchen, die Menschen „abzuholen“. Wenn Christian Lehnert diesen markigen, aber weitreichenden Satz - so wie viele andere auch - in den Fußnoten unterbringt, was erwartet dann einen im Haupttext, in den 14 Kapiteln seines Essays über Paulus, der den wiederum sprechenden Titel Korinthische Brocken trägt?

Ich versuche wieder und wieder zu ergründen, warum mir Paulus so nah ist,

so Christian Lehnert, der nach diversen Lyrikbänden hier - in „Bröckchen“ - eine ungemein dichte, intensive Relektüre des 1. Korintherbriefs vorlegt. Mit theologischem, philosophischem aber auch lyrischem und autobiographischem „Handwerkszeug“ sucht er, so der Klappentext, „die Konturen eines neuen Christentums“.

Was ihn, den Theologen umtreibt und ihn aufbrechen lässt ins Offene, das bewegt mich, der ich früher im Lesen schon das Wort „Gott“ überspringen musste, weil ich damit nichts anzufangen wusste, seit nun schon zwei Durchgängen durch das Buch. Versuche der Annäherung:

1

Ich erlebe, wie die christlichen Kirchen schrumpfen und ihre Glaubensaussagen an Plausibilität verlieren, wie ihre Riten ein Gilben erfaßt und ihre Metaphern verhärten. … Ich erlebe auch, wie sich die „großen Erzählungen“ von der Säkularisierung verflüchtigen. Daß Wissenschaft und technische Vernunft den Menschen aus einer selbstverschuldeten Sklaverei befreit haben sollen, ihn zu seinem eigentlichen Wesen führten, frei von aller erfundenen Transzendenz - das ist immer weniger Menschen einleuchtend.

Die Immanenz wird brüchig, und der Mensch, so Lehnert, sieht sich allein, ohne Gewissheiten, dem Abgrund gegenüber, über den sich sein Sein spannt.

Woher bin ich, der ich bin?

Konfrontiert mit der eigenen unerklärlichen Tiefe, beginnt die Suche erneut. Die christlichen Kirchen stehen dabei, was mögliche Antworten angeht, nicht sonderlich hoch im Kurs. Haben sie überhaupt Antworten zu bieten? Da schon eher die Esoterik, die Spiritualität, zusammen gesuchte Fundstücke - die aber oft nur einfache Fundstücke sind, dem Individuum die Ungewissheit zu nehmen, das Offene zu verschließen, Findlinge an der Tür zur Transzendenz, zum Offenen, auf das der Glaube, auf das das Sein weist …

Jeder sucht, und er sucht für sich, und er kann nicht anders als suchen. Manchmal liegt da ein Findling aus der Zeit der Einkehr, und er ist schön. Aber nein … hinaus in Dunkel geht der Weg, wo kein Weg ist.

Lehnert sieht Paulus als Zeitgenossen, als jemand, der vor 2000 Jahren, in der Gründungsphase der christlichen Kirche, ganz ähnliche Erfahrungen machte wie wir heute. Die sogenannte „Achsenzeit“ war ein Zeitalter des Überganges, der schwindenden Gewissheiten, des fehlenden Halts. „Das Dasein gebar die Angst.“ Paulus aber stellt sich (oder wird gestellt?) in dieses Neue, in den offenen Horizont - und schreibt der entstehenden Kirche in seinen Briefen einen Grundwiderspruch ein: den Stachel im Fleisch einer zur Erstarrung tendierenden Institution, die ihren Grund in einem Schmerz, einem Widerspruch, einem Ereignis hat, das sich der Institutionalisierung letztlich entzieht. Und siehe: „Alles ist offen. Alles kann geschehen.“

2

Was Saulus, den Christenverfolger, zu Paulus, dem Apostel, machte, ist weitgehend unklar. Ein Ereignis, das Damaskus-Erlebnis, warf ihn aus der Logik seines bisherigen Lebens, ließ ihn blind und sprachlos, seiner selbst verlassen, zurück und in der Folge mit der, dem sich Ereignenden nicht gerecht werdenden Sprache kämpfen. Wir erleben Paulus als Stotternden, und all die Begriffe, die für uns scheinbar klar, mit festen Bedeutungen versehen sind, sind noch im Werden:

Der Apostel und seine Gemeinde

Lehnert gräbt tief in der hebräischen und der griechischen Sprache, um an die Bedeutung hinter den Begriffen zu gelangen, die uns heute so vertraut sind; zu der Zeit, als Paulus seine Briefe schrieb, waren sie neu, fremdartig und eher Versuche, etwas zu benennen, das sich dem Benennen, immer und immer wieder, entzog.

Der Apostel z.B.: Hinter dem Ausgesandten steht in den Bedeutungsschichten des Begriffs auch die Vorstellung von einem Auftraggeber. Das meint keine Autorität, kein Amt, sondern eher einen Leerraum, eine Wunde: „Jemand ist aus einer Gottesbegegnung entlassen“ und fortan der Gewissheit seines Selbst verlustig.

Die Gemeinde in Korinth schreibt Paulus nun nicht etwa mit dem damals geläufigen synagõge an - sondern mit dem Wort ekklēsía. Und meint eben nicht eine Institution, einen Verein, eine Gemeinde als abgegrenzte Organisation:

Ekklēsía aber ist die Beschreibung einer Unterbrechung, etwas wie eine Bewusstseinsstörung. Sie ähnelt dem Nachbild eines grellen Lichtes, wenn man geblendet die Augen schließt und Ringe zerfließen, gelb und orange, nunmehr ohne Entsprechung in der äußeren Wirklichkeit. Etwas geschah, und was bleibt?

Die frühen Christen: sie wissen nicht, wer sie sind. „Was die ersten Christen von sich wissen können, ist nur ein Nicht-Wissen.“ Menschen fielen aus ihren Lebensentwürfen, aus ihren Schicksalen und wurden andere - und die frühchristlichen Gemeinden sind in diese Lesart eher Ereignisse, ein Geschehen, das - wiederum - die Wunde, die Frage wachhält.

3

Doch was ist diese Wunde? Das Christusereignis, Zusammenbruch der weltlichen (zeitlichen, räumlichen) Ordnung in einem Punkt, in einem Jetzt (griechisch kairos), Versagen der Sprache, Einbrechen der Stille, des Seins, Gottes in die Welt stellt eine Lücke in der Wirklichkeit dar - und die frühen Christen halten die Erinnerung an diese Stille wach, gleichsam: ein Offenhalten für eine Erwartung, Warten auf das / den Abwesende(n). Immer wieder kommt Lehnert auf die Figur der Anwesenheit des Abwesenden zurück: Christus ist anwesend, weil er abwesend ist. Im Verzicht auf das Wissen- und Benennenkönnen liegt das Geheimnis des Glaubens; nur weil das, wonach der Glauben fragt, abwesend ist, grundsätzlich anders und „nicht von dieser Welt“, kann es in dieser Welt wirken. Als eine „Bewegung ins Offene“, hinaus in einen Zwischenraum, in ein Niemandsland, die Fremde.

In der ekklēsía ist Gott abwesend anwesend - in einer Sehnsucht, die nicht einem fehlenden Objekt gilt, sondern dem Anderen als Grund des eigenen Daseins. Die ekklēsía ist eine Form der Liebe.

4

Viel ist in diesem Buch zu erfahren vom Leben und den Riten in den frühchristlichen Gemeinden. Da geht es weniger um Sphären des Heiligen, als oft um den Alltag: Das frühe Christentum „schuf keine Sonderwelten, sondern setzte das einfache Leben in einen neuen Zusammenhang“:

Nichts Höheres wurde über den profanen Alltag gebaut, sondern der Alltag selbst verwandelt und damit die Grenze zwischen profan und heilig aufgelöst.

Besonderer Bedeutung kommt dabei dem Taufritual zu, dessen „Schwundstufe“ die heutige Taufe allein noch ist.

Der Getaufte geht der Konsistenz seiner Lebenserzählung verlustig. Dieser Verlust aber begründet letztlich erst die unverfügbare Tiefe des Selbst, die Offenheit des neugeschaffenen, glaubenden Subjekts. Was es ist, gründet nicht mehr allein in der Immanenz, sondern wird ihm … zugesprochen. Dieses Subjekt sieht weiter, als seine eigenen Augen reichen, und umfaßt mehr als sich selbst, es ragt in die Fremde Gottes, der es schauend und erzählend hervorbringt: Kann eine Lebensgeschichte jemals meine sein?

Ein Mensch, ein Einzelner, begibt sich in eine Gemeinde - und diese ist dann doch mehr als nur eine Ansammlung Einzelner. Kommunion: Mit-einander. Der Mensch als bedürftiges, für sich genommenes fragmentarisches Geschöpf wird Teil eines Ganzen. Glied eines Leibes. Auch hier ist es wieder eine Fußnote, die weiter, tiefer führt:

Liebe ist das Zugeständnis meiner Bedürftigkeit. Nun kann man ja sagen: Wenn dann das Reich Gottes da ist und wir alle auferstanden sind, was brauch’ ich dann noch Liebe? Dann sind wir doch perfekt! Der Witz ist bei Paulus, daß ich auch in der Perfektion kein Ich bin, sondern wir ein Wir sind.

(quelle: Jakob Taubes)

5

Die Welt ist für Paulus der Ort, wo sich das Abwesende ereignet. Zwar ist das Gegenwärtige konjunktivisch, ist eine Frage, die auf etwas anderes zielt, ist alles, „als ob es nicht sei“: „Denn das Wesen dieser Welt vergeht.“

Christus (aber) ruft nicht an einen anderen Ort, er ruft nicht herüber von einem anderen Ufer, sondern er ruft den Menschen dorthin, wo er in der Welt gerade ist, an seinen eigenen Ort. In die Bejahung. … Die alte Welt ist verwandelt in ihren Schatten, im Licht des messianischen kairos, und sie ist doch der Ort der Bewährung, des Ausharrens zum Ende, und das heißt: Harren in der Verantwortung für die Welt als Hauch.

Das ist der Widerruf jeglicher Utopie, jeglicher Jenseitserwartung, auch jeglicher Hoffnung. „Bleibt! Verharrt!“ Ruft Paulus den Gläubigen zu. „Jeder bleibe in der Berufung, in der er berufen wurde.“ Nur da, nur hier, nur jetzt, nur da, wo kein Weg ist, ist der Weg. Nur wenn ich nichts erwarte, bin ich in Erwartung. Es geht um Offenheit, jenseits meiner subjektiven Vorstellungen, Maße und Werte. Und es geht darum, diese Welt nicht gegen eine andere, ideale einzutauschen, den Körper nicht im Geiste zu vergessen.

Auch eine gläubige Existenz ist ganz diesseitig - das gibt Paulus den Korinthern zu bedenken. Was immer ihr tut, als geistliche Menschen, ihr bewegt euch in diesem Äon. Was immer ihr darüber hinaus denkt, sind Fragen, Sehnsuchtsfiguren der Gedanken. Und jede „Antwort ist Unglück der Frage“.

Der christliche Glaube: eine „Dauerirritation“?

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Liebe - das ist das Grundgeräusch der Dinge, Polyphonie des Staunens über ihr Erscheinen.

Ohne Liebe (agape) wird Religion zum Wirklichkeitsfilter, zum Sprachpanzer, verkommen Glaubenssätze zur Selbstbestätigung. Warum? Weil erst die Liebe, und im griechischen agape schwingt der Selbstverlust des liebenden Subjekts in der Liebe mit, den Raum, den Zwischenraum öffnet.

Das Ich hat in den Augen des Paulus keinen Bestand ohne die agape. Es ist ein Schwingungsphänomen, es wird hervorgerufen, hervorgesungen, hervorgesprochen, und wenn es existiert, dann indem es Resonanz gibt. … Das Ich, sobald es spricht, schwingt in einer fremden Stimme mit, die ihm erst das Dasein schenkt.

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Christian Lehnerts „Paulus-Buch“ reiht sich in eine lange Liste von Werken, die Lehnert kennt und weiterdenkt. Zitiert werden unter anderem Friedrich Nietzsche, Alain Badiou, Jean-Luc Nancy, Giorgio Agamben, René Girard, Jacob Taubes. Er bewegt sich damit nicht nur auf der Höhe der Forschung, sondern versteht es, aus der Verbindung von Reiseerlebnissen, autobiographischen Prosaskizzen und der philosophischen bzw. theologischen Diskussion eine Versuchsanordnung zu kreiieren: eine Fragment bleibende Auseinandersetzung, ein Infragestellen und Weiterfragen. Eine - aufgrund der Dringlichkeit, Dichte und einer klaren, persönlich angehenden Sprache - dauerhafte Irritation.

Alles was ich wissen kann, weiß ich als Subjekt: es ist der Horizont meiner Welt, einer Welt, die immer auch die Tendenz hat, sich zu verschließen, im Schein einer Ganzheit, die doch nur meinem eigenen, mir - auch, ja - in die Wiege gelegten Absolutheitsanspruch entspringt. Ich weiß (glaube zu wissen?), dass da noch etwas ist, etwas Größeres, etwas Umfassenderes, doch dies kann ich nicht wissen.

Glauben als Bereitschaft zur Frage, ohne eine Antwort zu erwarten? Und sie dann doch, anders, zu erhalten?

Alle Zitate aus: Christian Lehnert: Korinthische Brocken. Ein Versuch über Paulus. Suhrkamp 2013