Nicht heulen, sondern handeln

Politischer Stratege, Experte für Beteiligungsprozesse, Katholik: Erik Flügge. Seine Streitschrift Nicht heulen, sondern handeln richtet sich an die protestantische Kirche und will, wie das so ist bei einer Streitschrift, vor allem eins: Provozieren. Aufrütteln. Fragen stellen. Flügges Thesen für einen mutigen Protestantismus der Zukunft schießen deshalb selbstbewusst über das Ziel hinaus, weil sie – so verstehe ich das zumindest – nicht in erster Linie darauf angelegt sind, umgesetzt zu werden, sondern den real existierenden Protestanten an seiner Streitlust (wenn noch vorhanden) herausziehen wollen. Ins Offene, Ungeschützte. Da wo die Gegenwart über die Volkskirche(n) hereinbricht.

Kann es denn weitergehen, wie es ist? Kräfte zehrend, schwächelnd und in stetiger Trauer über den Niedergang,

fragt Flügge, und die Antwort kann natürlich nur lauten: Nein! Nun bin ich selbst erst seit zwei Jahren bei dem Verein dabei (in meinem Fall: Evangelisch-Lutherische Landeskirche Sachsen), und daher stehe ich ein wenig zwischen den Fronten. Auf der einen Seite bin ich nun einer von denen, gegen die Erik Flügge polemisiert; auf der anderen Seite bin ich neu genug, um selbst noch regelmäßig den Kopf zu schütteln über so viel verschenktes Potential, eine Strahlkraft, die zu selten nach außen gelangt, und behäbige Entscheidungsprozesse, denen es an Visionen oder einfach nur an Mut zu oft mangelt.

Die Kirche in der Krise?

Gerade die sächsische Landeskirche hat in den letzten Jahren so viel zur eigenen Demontage beigetragen, dass ich nicht weiß, ob ich heute noch so unbedarft und mutig den Weg in die Kirche gehen würde (ich komme von ganz weit außen, von der Position des größtmöglichen anzunehmenden Atheismus).

Dabei lohnt es sich, genau diesen Blick von Außenstehenden auf die Kirche einzunehmen – eine Fähigkeit, die in christlichen Gemeinden vorsichtig gesagt nicht sonderlich stark ausgeprägt ist. Und das obwohl die christliche Kirche – rein von ihrem Auftrag her betrachtet (das Licht und Salz der Welt, Sie wissen schon...) nur ist, solange sie für andere ist (Bonhoeffer). Umso mehr erstaunt, wie selbstgenügsam es mittlerweile vielerorts zugeht: Solange sich eine Schar Gläubiger um einen Pfarrer versammelt und auch noch halbwegs die Lieder zu singen weiß, solange ist die Sache Jesu' noch nicht ganz verloren...

Allerdings: Solange die Kirche und die Gemeinden vor Ort keine Sprache finden für das spirituelle Bedürfnis der Menschen heutzutage, solange die Strahlen des Gemeindelebens (das Licht) und die befruchtenden Impulse sozialer, kultureller oder auch seelsorgerlicher Arbeit (das Salz) nicht nach außen zu dringen vermögen – solange ist es schlecht bestellt um diese Kirche. Es gilt also, sich auf die Sprache, die Formen und die Themen der Gegenwart außerhalb der Kirchenmauern einzulassen; anders als früher genügt auf dem unübersichtlich gewordenen Markt der Spiritualität nicht mehr das Althergebrachte.

Es geht um Relevanz: ganz konkret, ganz praktisch, ganz aktuell. Und da hat, das sehe ich ähnlich wie Flügge, der christliche und auch der protestantische Glaube einiges aufzuholen.

Selbstbewusstsein?

Flügge greift in seiner Schrift drei Säulen des Protestantismus an und fordert Umkehr oder Neuanfang. Bei aller Sympathie mit dem Anliegen des von Außen Kommenden, bin ich doch mittlerweile so sehr in meiner evangelisch-lutherischen Gemeinde beheimatet, dass ich das alles nicht ganz so wild, nicht ganz so radikal sehe wie Flügge.

Damit bin ich bei einem entscheidenden Punkt und der zentralen Stärke der heutigen protestantischen Kirche angelangt:

Ich kenne in dieser Gesellschaft keine so heterogene, widersprüchliche, komplexe Institution, die dermaßen viele Aufgaben und Funktionen für dermaßen unterschiedliche Menschen jeden Alters wahrnimmt. Eine Institution, die so extreme Differenzen beheimatet und dennoch Schutz und ein Dach über dem Kopf bietet. Eine Organisation mit einer schier unermesslichen Tradition, die Ballast und Reichtum zugleich ist, aber auch die große Chance mit sich bringt, eine Zukunft zu gestalten, die im Dialog mit der Vergangenheit bleibt.

Ihre größte Stärke ist auch einer ihrer wunden Punkte: diese Kirche verträgt keine einfachen Antworten. Wie ein lebendiger Organismus entzieht sie sich der Schlichtheit und den Schubladen, die im öffentlichen Diskurs heute so gern gesehen sind (und die auch Flügge bedient). Das – die Lebendigkeit und Vielfalt in den Gemeinden – ist ihr großer “USP”.

Thesen für einen mutigen Protestantismus der Zukunft

1. Der Gottesdienst ist tot.

Schon Flügges erster vernichtender Kritikpunkt bekommt daher nur die eine Hälfte der Wahrheit in den Blick. Ja, mit guten Gründen kann man sagen:

Ihre Gottesdienste sind tot. Sie werden nicht mehr lebendig.

Denn: es kommt ja keiner mehr. 97% der Protestanten bleiben einfach zuhause, weil sie den Gottesdienst schlichtweg nicht mehr brauchen. Das Ritual wurde von der Zeit überholt. Doch das Hantieren mit Statistiken und die letztlich marktwirtschaftlichen Regeln gehorchende Auswertung blickt von außen auf ein Phänomen, das aus der Innenperspektive irgendwie nicht ganz so beunruhigend sein muss. (Natürlich hat ein gewitzter Rhetoriker wie Erik Flügge das vorausgesehen und baut das in seine Argumentation ein.)

Doch es ist einfach so: die Marktlogik, das Verhältnis von Angebot und Nachfrage, ist in Sachen Spiritualität ein schlechter Ratgeber. Die Besuchszahlen eines Gottesdienstes sagen nichts über dessen Qualität und Relevanz aus. Gerade ein Gottesdienst im kleinen Kreis, auch ein Gottesdienst, der an Perfektion zu wünschen übrig lässt, oder bei dem die (viel gescholtene) Predigt irgendwie verrutscht, kann ein intensives spirituelles Erlebnis ermöglichen. Christian Lehnert hat in seinem letzten Buch viel darüber geschrieben.

Richtig aber ist: Jenseits dieser Form fehlen vielerorts Angebote, die zum Glauben einladen, inspirieren, die Türen öffnen. Hier kommt eben die Perspektive von außen zu kurz: In welchen Formen lassen sich Bedürfnisse der Menschen aufgreifen, denen das Wort Gott nicht so vertraut ist? Wie ermöglicht man Begegnungen mit dem christlichen Glauben, die weniger in althergebrachten Gemeindestrukturen daherkommen, sondern offen, durchlässig, in Kirchensprech niederschwellig sind? Wie kommt der Glaube zu den Menschen, wenn die Menschen nicht mehr zum Glauben finden?

2. Die Bibel ist aus der Zeit gefallen.

Flügge räumt auch mit der Bedeutung der Bibel auf. Zwischen den alten Texten und dem menschlichen Sein heute klaffe ein riesiger Riss, der zum Relevanzverlust der Bibel führe. Deshalb fordert er:

Schreiben Sie die Bibel endlich fort.

Richtig ist: Universitäre Theologie und Bibelwissenschaft sind noch immer vielerorts ein Fremdwort in Gottesdienst und Gemeindeleben. Und glücklich ist, wer neben der Bibel andere Texte zur Hand hat, die die Tiefen der alten Schriften erschließen, übersetzen, aktualisieren.

Die Forderung, die Bibel um neue Texte zu ergänzen, halte ich allerdings für überzogen. Gerade dieser Fels in der Brandung der Zeiten, gerade die Reibung an den immergleichen Schriften (an denen sich über die Jahre hinweg in immer wiederholter Begegnung auch wachsen lässt) bewirkt ja letztlich, dass Autoren, Philosophen, Musiker, Künstler ihrer Produktivität freien Lauf lassen; vor allem entsteht im Riss zwischen dem heutigen Sein und den christlichen Texten eine Spannung, die sich Tag für Tag produktiv machen lässt. Dazu braucht es allerdings etwas ziemlich Unzeitgemäßes: Konzentration, langen Atem und Raum zur Begegnung und Auseinandersetzung mit den alten Texten.

3. Es braucht neue Propheten.

Wäre es nicht schön, Reformatoren in den eigenen Reihen zu haben, die die Kirche und die Theologie erfolgreich vorantreiben?

Schön aber problematisch findet Flügge die demokratische, synodale Struktur der evangelischen Kirche, die zu Kompromissen, Mittelmaß und Langeweile führe: "Der Protestantismus krankt an der Schwäche der Konsensdemokratie."

Nach nur zwei Jahren im Kirchenvorstand weiß ich ganz gut, was er damit meint. Aber: Ich sehe das aus Sicht des Gemeindelebens genau entgegengesetzt. Was der Protestantismus als allerletztes braucht, ist ein gewählter Reformator, ein "neuer Luther" als Ideengeber, einer, der der demokratischen Langeweile wie der Stern über Betlehem Richtung und Spannkraft verleiht. Flügge kritisiert die Luther-Verehrung der Protestanten und reproduziert sie dabei selbst: ein neuer Reformator solle her!

Wie oben geschrieben: das große Kapital der evangelischen Kirche ist die Vielgestaltigkeit und Lebendigkeit des Lebens in den Gemeinden. Mehr Selbstbewusstsein und mehr Experimentierlust auf dieser lokalen Ebene – das wünsche ich mir für meine Kirche. Einen Ideengeber von oben braucht es dafür nicht.

Das Potential ist da!

Eher sind es die kleinen Initiativen am Rande, die praxisorientierten, vor Ort sich verwirklichenden Ideen, die die Zukunft der Kirche ausmachen. Eine aufsuchende Kirche, wie sie in den Initiativen von Fresh X begegnen. Eine zuhörende Kirche, die nicht schlauer sein will als der einzelne Glaubende. Eine offene Kirche und eine Kirche für andere, die ihr Potential in der Vielfalt und in der Kreativität des Gemeindelebens und in der Verantwortung füreinander findet. Eine Kirche mit einer Schatzkammer an Tradition, deren Tür für alle Fragen, Ideen und Bedürfnisse von heute offenstehen.

Erik Flügge liefert hierzu Fragen, die es zu diskutieren gilt. Ich glaube: Es gibt gar keinen Grund zum Heulen. Aber viele Gründe zu handeln.

Wertvolle, konstruktive Impulse liefern u.a. die Podcasts Worthaus und Frischetheke. Das Buch von Erik Flügge, Nicht heulen, sondern handeln. Thesen für einen mutigen Protestantismus der Zukunft, ist im Kösel Verlag erschienen.