Mein drittes Leben

"Ganz gleich, wie beschwerlich das Gestern war, steht kannst du heute von Neuem beginnen."
Buddha

Wer kennt sie nicht, diese Sinn- und Trostsprüche? Und wer ahnt nicht, dass diese Sprüche bei harten Schicksalsschlägen an ihre Grenze kommen? Warum also sollte man den Roman Mein drittes Leben von Daniela Krien lesen, in dem eine 17jährige Radfahrerin von einem LKW überfahren wird und das Leben einer Familie von einem Augenblick auf den anderen zerstört wird? 300 Seiten ungeschönte Trauerarbeit.

"Die Zeit bliebt stehen", heißt es. Und das Leben geht für Linda, die Mutter der Gestorbenen, nicht weiter. Während ihr Mann Richard schneller wieder ins Leben zurückfindet, "ver-rückt" es Linda, raus aus der Stadt, weg von von den Menschen, in ein "reizlos zweigeteiltes Straßendorf", wo die Tage in steter Einförmigkeit vergehen und nichts an das alte Leben erinnert. Um schlafen zu können, nimmt sie Schlaftabletten. Die einzige Brücke zu den Lebenden sind die 14tägigen Besuche ihres Mannes, die irgendwann ausbleiben. Es gibt einen Moment, da trennt Linda nur noch eine hölzerne Hoftür vom Tod.

Warum muss man das lesen? Daniela Krien macht es ihren Leser*innen wirklich nicht leicht. Sie folgt Linda weit über die Hälfte ihres neuen Romans tief in die Trauer, beschreibt intensiv jeden noch so monotonen Moment, weicht keinem Schmerz aus, nimmt keine Abkürzung, um Trost zu spenden. Keine.

Daniela Krien: Mein drittes Leben. Diogenes 2024
Daniela Krien: Mein drittes Leben. Diogenes 2024
"Gegen die Trauer kommt man ohnehin nicht an. Sie überwältigt einen, besonders, wenn es um die eigenen Kinder geht. Jeder Kampf dagegen ist sinnlos. ... Trauer muss durchlitten werden."
Daniela Krien im Interview mit Dagmar Kaindl (Buchkultur)

Daniela Krien hält ganz zu ihrer Hauptfigur Linda, die sich in Verzweiflung, Selbstmitleid, Schuldvorwürfen, Ausweglosigkeit verliert. Die Autorin erzählt, dass sie während des Schreibens auch im Alltag mit ihren Figuren sprechen würde, so real seien sie für sie. Und das ist nach wie vor die große, bewundernswerte Kunst der in Leipzig lebenden Krien: dass ihre Figuren – neben Linda und ihrem Mann Richard auch zahlreiche Nebencharaktere – so voller Leben sind, voller Ecken, Kanten, voller Gefühlen und Geschichten. Ja, man geht mit Linda durch die ganze zähe Trauerphase mit, weil diese Frau einem so bekannt vor-, so nahe kommt.

Und dann finden sich immer wieder auf den Punkt gebrachte Weisheiten, die nichts mit oben zitierten Sinnsprüchen zu tun haben, sondern existentiellerer, schmerzhafterer Natur sind. Etwa wenn Richard, der sich irgendwann zu einem Neuanfang mit einer anderen Frau entschließt und dennoch weiterhin zu Linda hält, ihr sagt:

"Wenn dein Leben nur im Glück einen Sinn hatte, dann hatte es nie einen Sinn."
Richard

Bumm. Innehalten. Nochmal lesen. Buch weglegen. Krien erzählt eben nicht "nur" die Geschichte einer trauernden Frau, die lange Zeit vergeblich versucht, die Reste ihres durch einen einzigen Moment zersprengten Lebens wieder zusammenzusetzen (oder nein: die nicht mal mehr das versucht). Krien erzählt auch vom Leben in einer Gesellschaft, die, so sagt sie, "schicksalsfremd geworden ist". Die ausblendet, wie fragil das Leben und diese Welt ist. Die ausblendet, was anders, verstörend ist, was die scheinbar so selbstverständliche Normalität infragestellen könnte. Etwa die schwerbehinderte Nine, die bis an den Rand der Selbstaufgabe von ihrer Mutter gepflegt wird – und irgendwann Teil von Lindas Weg zurück ins Leben ist.

"Mein früheres Ich hätte sich mit irgendetwas abgelenkt und belohnt – einem neuen Kleid, einem Lippenstift. Doch hier in meinem dritten Leben sitze ich auf einem Küchenstuhl und lasse alle Gefühle kommen."
Linda

Was gibt dem Leben Sinn? Was ist Glück? Und was passiert eigentlich mit der Liebe im Ernstfall (so der Titel eines ihrer früheren Bücher)? Krien sagt: "Natürlich muss man die Liebe vom Ernstfall aus betrachten." Und erzählt dann eine auch sehr hoffnungsvolle Geschichte zweier Liebender, jenseits aller Klischees und Rollenvorstellungen. Allein deshalb, wegen Lindas nicht von ihrer Seite weichendem "Lebensmensch" Richard, möchte man dieses Buch bis zur letzten Seite nicht aus der Hand legen.

Mit großer Aufrichtigkeit und Wärme stellt Daniela Krien in ihrem Roman dieser flüchtigen, oberflächlichen Zeit eine Geschichte voll genauester Beobachtungen des Innenlebens und der Außenwelt entgegen. Ein Buch voll kleinster Geschichten und kantiger Charaktere. Ein Buch, das in der Trauer keinen Sinn sucht – und dafür jeden kleinen Hoffnungsmoment – zaghaft, zweifelnd – begrüßt. Um ganz leise, aber entschieden, "trotzdem Ja zum Leben (zu) sagen" - so der Titel eines Buches des für Daniela Krien sehr wichtigen, jüdischen Autors Viktor E. Frankl.