Moonlight Mile
Der 2023 erschienene Roman Sekunden der Gnade von Denis Lehane hat mich nachhaltig beeindruckt: diese Zeitreise ins Boston der 1970er Jahre fesselte von der ersten bis zur letzten Seite mit der schonungslosen Schilderung der Selbstjustiz einer farbigen Mutter. Mit entsprechenden Erwartungen griff ich nach dem nun in neuer Übersetzung von Peter Torberg erschienenen Moonlight Mile: dem letzten Fall für Patrick Kenzie und Angela Gennaro.

Das Buch ist tatsächlich schon 15 Jahre alt und (scheinbar) der Abschluss einer Krimiserie über ein verheiratetes Ermittlerpaar. Zu Beginn dieses Falls ist Angela Gennaro vor allem Studentin, und Patrick Kenzie erledigt allein und mit wachsenden Selbstzweifeln seine Aufträge. Eher widerwillig stolpert er in seinen neuen Fall – und diesen Widerwillen verpackt er in ziemlich viel Zynismus und Wortwitz. Angesichts meiner an Sekunden der Gnade geschulten Erwartungshaltung tat ich mich mit dieser Seite von Denis Lehane anfangs eher schwer: In bester Quentin Tarantino-Manier werden in Moonlight Mile Sprüche geklopft, Witze gedroschen und Gewalt mit viel verbaler Komik garniert. Dabei ist die Story, die Lehane ziemlich langsam anbahnt und dann in atemberaubenden Plot Twists durcheinanderwirbelt, ziemlich harte Kost.
In Gone Baby Gone (erschienen 1998) erzählte Lehane von einer Kindesentführung, die von Gennaro und Kenzie scheinbar erfolgreich beendet wurde: die damals 4jährige Amanda wird von den beiden zurück zu ihrer Mutter gebracht. Mittlerweile ist Amanda eine Teenagerin – und erneut verschwunden. Ebenso wie ihre Freundin Sophie.
"Ich habe eine Geschichte über Amanda und Sophie gehört. Ich habe gehört, dass über Thanksgiving fünf Personen in einen Raum gegangen sind. … Zwei Personen starben. Aber vier Personen kamen wieder heraus.“
Der Fall ist ein einziges Rätsel. Und jede Schritt zur Lösung bringt neue Rätsel. So sehr sich Kenzie zunächst sträubt, den Fall anzunehmen, so hartnäckig verfolgt er ihn dann. Dabei ahnt man über weite Strecken kaum, wo die Reise in diesem Thriller hingeht. Spätestens als mehrere russische Gangster den Raum betreten, ist aber klar, dass man sich zusammen mit Kenzie auf einiges gefasst machen sollte. Als der dann Amanda aufspürt, wird er mit den für das Mädchen schwierigen Folgen seiner damaligen Ermittlertätigkeit konfrontiert. Lehane schreibt einmal mehr eine profunde, erschütternde Kritik der sozialen Verhältnisse in Amerika im Gewand eines Krimis:
“Bei sehr vielen Kindern, mit denen ich zu tun habe, ist das Problem nicht das Kind, sondern die Tatsache, dass das Kind bei der Elternlotterie eine Niete gezogen hat.“