Fenster ohne Aussicht

Tagebuch aus Tel Aviv

"Was weißt du schon über den Krieg?"

Das fragt sich Dror Mishani im Oktober 2023, wenige Tage nach dem Anschlag der Hamas und dem Beginn des heute, fast ein Jahr später immer noch andauernden Krieges im Gaza-Streifen. Es ist natürlich auch eine Frage an uns: Was wissen wir eigentlich über den Krieg? Aus dem – teilweise auch nur scheinbaren – Sicherheitsabstand lässt sich leicht über die Ereignisse in Israel, der Ukraine und anderswo urteilen, lassen sich Ratschläge erteilen und Reden in Talkshows halten. Marica Bodrožić beschrieb sie zuletzt in ihrem Buch Die Rebellion der Liebenden,

"diese Kurzsichtigkeit im Urteilen, diese eigenartige Geisteshaltung, sich selbst zum Mittelpunkt der gedeuteten Welt zu machen, in der die Notleidenden gar nicht mehr vorkommen, sondern nur das, was auf sie projiziert wird, während sie ihr Leben riskieren und hier in aller Ruhe selbstbezogene und unpassende Schlagwörter gefunden werden..."

Mit seinem nun erschienen Tagebuch aus Tel Aviv nimmt uns der israelische Autor Mishani mitten hinein in die Kriegstage im Herbst und Winter 2023, ganz ohne Sicherheitsabstand und vermeintliche Antworten. Fenster ohne Aussicht ist ein persönliches Dokument der Zeit von Oktober 2023 bis März 2024: ein Dokument der Ratlosigkeit und Trauer, der offenen Fragen und wegbrechenden Sicherheiten.

Dror Mishani: Fenster ohne Aussicht. Tagebuch aus Tel Aviv. Aus dem Hebräischen von Markus Lemke. Diogenes 2024

Mishani ist auf Lesereise in Frankreich, als ihn die furchtbaren Nachrichten erreichen. Erinnerungen an die Progrome in Osteuropa werden wach. Während seine Frau und die Kinder in Schutzräumen sitzen, rechnet Mishani mit dem Schlimmsten. "Das Ganze wird lange dauern. Wer weiß, wie lange." Unter dem Schock der Ereignisse versucht er, realistisch zu bleiben – und gleichzeitig das Unmöglich zu hoffen: "Vielleicht ist ein Krieg ja noch zu vermeiden?" Er entwirft einen Artikel, indem er vorschlägt, nicht mit Gewalt zu reagieren:

"nicht reingehen, nicht in Schutt und Asche legen, nicht zerstören, nicht vernichten, sondern trauern, Shiv'a sitzen, Wunden verbinden und verbinden lassen. Und dann nachdenken. Zuerst einmal nachdenken."

Wir alle wissen, was geschah. Mishani notiert aus nächster Nähe, was die jüdische Bevölkerung in Israel an Zweifeln und Ängsten erlebt, wie die Menschen über Auswanderung nachdenken und sich um ihre Kinder sorgen, während Militärexperten der israelischen Regierung im Fernsehen Kriegsparolen verkünden. Mishanis Buch zeigt, wie unangemessen es ist, die jüdische Bevölkerung als ganze verantwortlich zu machen für das Kriegsgeschehen und damit den Boden zu bereiten für einen erstarkenden Antisemitismus.

"Nichts rechtfertigt das furchtbare Morden am 7. Oktober, aber ich denke, was wir vorher getan haben und auch jetzt noch tun, hilft uns ganz bestimmt nicht, die nächste Katastrophe zu verhindern."

Dies schreibt ein jüdischer Autor im Staate Israel: Mishani hat Angst um sein Land und sein Volk – weil er dem Krieg verzweifelt zuschauen muss. "Mich interessiert vor allem, was wir tun können, um hier in Frieden zu leben." Und so wächst mit der Zeit der Abstand zur eigenen Regierung – und das Mitgefühl mit den Opfern auf beiden Seiten.

Irgendwann kann Mishani zum Schreiben in sein Büro zurückkehren. Das Fenster geht auf die Rückseite eines alten Museums, in dem David Ben-Gurion 1948 die Unabhängigkeit des Staates Israel ausrief. Das historisch bedeutsame Gebäude sollte restauriert werden. Durchgeführt wurden die Arbeiten von Palästinensern. Schon vor Kriegsbeginn aber kamen die Arbeiten zum Erliegen – aus fehlendem Geld, mangelndem Interesse? Das Fenster ohne Aussicht ist ein Symbolbild für die Lage in Israel. Mishani versucht in diesem leise fragenden Tagebuch, "mit offenen Augen zu leben" – und weiterzuschreiben. Gegen die Angst und, so ist man versucht, aus hiesiger Perspektive zu ergänzen: gegen die einfachen Schlagworte.