Erste Person Singular
Haruki Murakami
Meine Geschichte mit Haruki Murakami begann spät, war recht kurz und endete jäh; nachdem mich der dreiteilige Koloss 1Q84 innerhalb nur weniger Wintertage in einem zugeschneiten Hotel auf der Insel Hiddensee förmlich überrollt hatte, legte wenige Jahre später die Neuübersetzung von Südlich der Grenze, westlich der Sonne einen Bann auf mich: ich halte diesen Roman auch heute noch für eines der vollendetsten Werke der Gegenwartsliteratur, abgründig, sinnlich, zutiefst musikalisch und gleichzeitig von größter Bescheidenheit. Leider verärgerten mich kurz darauf Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki ob ihrer Farblosigkeit derart, dass ich seitdem neuen Büchern des japanischen Vielschreibers aus dem Weg ging.
Melancholische Rückblicke auf unbedeutende Episoden
Auf den ersten Blick macht Haruki Murakami in den acht kurzen Erzählungen seines neuen Buches Erste Person Singular alles so, wie man es kennt und erwartet. Wie der Titel schon sagt, finden sich hier Geschichten eines Einzelgängers, der in wie gewohnt einfacher Sprache von wie gewohnt recht unspektakulären, farblosen Episoden seines Lebens erzählt. Musik spielt eine Rolle, Frauen stehen oft im Mittelpunkt, und meist drehen sich die Episoden um eine surreale Mitte, um ein Rätsel, das der Erzähler nicht auflösen will oder nicht aufzulösen vermag. In der "kleinen Form" läuft Murakami in meinen Augen allerdings derart zur Höchstform auf, dass ich die ein oder andere Erzählung gleich mehrfach las.
Wer vermag mit Sicherheit zu sagen, was in der Vergangenheit wirklich passiert ist?
Das Ich, diese "Erste Person Singular", ist in Murakamis Welt ein erstaunlich fragiles, fast unmöglich scheinendes Gebilde. Es ist das Resultat einer Geschichte, die es eigentlich kaum selbst verantworten kann, die ihm äußerlich, zufällig, unverständlich bleibt. Murakamis Kunstgriff nun ist recht simpel und gleichzeitig faszinierend: Er erhebt diese maximal unzurechnungsfähige "Person" zur Erzählinstanz und zur Mitte seiner Geschichten. Eine mögliche Verwechslung mit dem Autor wird natürlich nicht ausgeschlossen.
Der gealterte Erzähler blickt in den acht Geschichten in Erste Person Singular mehr oder weniger weit zurück auf sein Leben; auf die Frau, mit der er als junger Mann eine Nacht verbrachte und von der nichts als ein paar Gedichte geblieben sind; auf die Zeit, als Mitschülerinnen mit Beatles-LPs vor der Brust über die Schulflure rannten; auf einen recht glücklosen Baseball-Verein; auf Abende mit Sonaten von Robert Schumann und geplatzte Dates. Tatsächlich handelt es sich auf den ersten Blick um zutiefst melancholische Erinnerungen an verpasste Gelegenheiten oder nie aufgelöste Missverständnisse. Es sind, so der Erzähler, "kleine Ereignisse in meinem unbedeutenden Leben":
Selbst wenn sie nicht stattgefunden hätten, wäre mein Leben wohl auch nicht anders als jetzt.
Ein Kreis mit vielen Mittelpunkten
Ja, in diesen Texten eines hörbar älteren Erzählers spielen die Kostbarkeit der Erinnerungen und das unfassbare Vergehen der Zeit eine wichtige Rolle. Indem Murakami jedoch mit seiner Rolle als Autor spielt, der sich keinen Deut darum schert, die Ungereimtheiten in seinen eigentlich so unspektakulären Geschichten aufzulösen, stiftet er unter der makellosen Oberfläche der Texte zahlreiche Anlässe für Beunruhigendes und Unwirkliches. Ein mysteriöser Herr gibt dem jungen Alter Ego des Erzählers die Aufgabe, sich einen Kreis mit vielen Mittelpunkten vorzustellen:
"Du musst es aus eigener Kraft schaffen. Deinen Verstand gebrauchen, um dir einen Kreis mit vielen Mittelpunkten und ohne Begrenzung vorzustellen. Wenn du dich richtig ernsthaft anstrengst, wirst du nach und nach erkennen, worum es dabei geht. ... Du darfst nicht faul und nachlässig sein. Jetzt ist der entscheidende Zeitpunkt, an dem sich dein Herz und dein Hirn entwickeln."
Genau das ist die Aufgabe, vor die diese Geschichten die Leser*innen stellen: aus den zahlreichen Mittelpunkten den Kreis zu konstruieren, aus den vielen Leerstellen und Zufällen eine Identität zu schaffen. Aber vielleicht falle ich damit auch schon wieder auf den vermeintlichen Sinn herein, dem Murakamis nur im Spiegel zu fassender (oder nicht zu fassender) Autor gerade den Boden entzieht: "Thema? Es gibt kein Thema."
In jedem Fall sorgen die viel zu schnell gelesenen Geschichten in Erste Person Singular für großes, durchaus ambivalentes Vergnügen. Nicht selten fühlt es sich an (um noch einmal einmal Murakami himself zu zitieren), "als würden Reales und Irreales willkürlich die Plätze tauschen". Voller Witz und nicht ohne Schaudern blickt man auf die Stelle, an der sich die Wirklichkeit in der Fiktion auflöst oder das Fiktive real wird. Etwas, was kaum jemand so gut zu treffen vermag wie Murakami.
Sie glauben mir wohl nicht?
Das sollten Sie aber, denn es ist wirklich so passiert.
Mir scheint, meine Geschichte mit dem japanischen Nobelpreis-Anwärter ist noch lange nicht zuende.