Hegemann, Smith, Schlingensief
Helene Hegemann über Patti Smith, Christoph Schlingensief, Anarchie und Tradition
"Keine Lobrede" möchte Helene Hegemann schreiben, das betont sie gleich zu Beginn ihres Buches über Patti Smith, Christoph Schlingensief, Anarchie und Tradition. Es ist ein schmaler Band, dessen erste Hälfte sie erstmal zur Annäherung an ihren Gegenstand benötigt. Und der ist, wir befinden uns ja immerhin in der KiWi Musikbibliothek, zunächst einmal die Smith, oder sollte es zumindest sein, und dann irgendwie auch der Schlingensief. In dieser ersten Hälfte des Buches ist der Gegenstand der Autorin aber zunächst einmal sie selber – und all die Probleme, vor die sie das Thema stellt.
"Im Grunde grenzt das, was ich Patti Smith gegenüber empfinde, an konfuse Genervtheit, ich kann das nicht anders sagen."
Hegemann schreibt sich – positiv ausgedrückt – sehr assoziativ an Patti Smith, diese Punkrock-Ikone aus der Zeit vor der Erfindung des Punkrock, heran. Wie man der Autorin beim Prokrastinieren zuschauen darf, ist über weite Strecken sogar ganz erhellend, solange man nicht erwartet, etwas Profundes über die Musikerin aus dem Titel zu erfahren.
Stattdessen schreibt sich Hegemann tastend an die Geschichte ihrer Mutter heran, die laut Musik hörte, weil sie sich von ihr "in Stücke reißen lassen wollte": David Bowie, die Rolling Stones, Patti Smith. Nach dem Tod der Mutter wächst Hegemann, das "Wunderkind der Boheme" (Tobias Rapp) bei ihrem Vater Carl Hegemann, praktisch im Theater und im Dunstkreis von Christoph Schlingensief und René Pollesch auf. Dass sie zu da Musik ein ambivalentes Verhältnis hat: klar. Warum ausgerechnet sie dann den Patti-Smith-Band zur äußerst illustren Musikbibliothek bei Kiepenheuer & Witsch beisteuern soll, erschließt sich ihr vielleicht selbst nicht, aber gut: Auftrag ist Auftrag.
"Ich kann in Wehmut über den nicht zu bewältigenden Anspruch vergehen und Jura studieren. Oder mich über diesen Anspruch hinwegsetzen und das tun, wofür ich bezahlt werde."
Nachdem sie ausführlich darüber nachgedacht hat, wieso ausgerechnet jemand wie Smith auf Instagram ist (Verrat!) und wie es passieren konnte, dass sich die ganze Alternativkultur von der Gesellschaft aufsaugen und neutralisieren ließ (keine Antwort), findet sie dann endlich, ungefähr zur Hälfte des Buches, ihr Thema: Christoph Schlingensief. Nachdem man ihr 30 Seiten beim Teekochen und Schattenboxen zusehen durfte, geht spürbar die Tür auf und Hegemann kommt ins Erzählen. Wie sie den großen Schlingensief, eine Erlöserfigur nicht nur fürs Theater, in Wien kennenlernte, wie der Klein & Groß gleich behandelte. Wie für sie ein neues Leben anfing:
"Christoph und seine Arbeit oder das, was ich am Rand davon mitgekriegt habe, (waren) nach dem Tod meiner Mutter für mich nicht nur ein, sagen wir mal – interessanter Einfluss. Sondern etwas, das sich meine Mutter zur Wiedergutmachung ihres Unzulänglichkeiten erhofft hätte. ... Das was dieser Mensch da machte, war ein einzigartiger Vorgang."
Es kann nur einen geben! Neben der einzigartigen Wahrheitssuche des Revolutionärs Schlingensief, neben dem einzigartigen Geschehen an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, wirkt alles andere wie zweitrangig – und irgendwie ist das auch mit Patti Smith der Fall. Bei ihren Konzerten darf Unvorhergesehenes passieren? Ja – genau wie in der Volksbühne! Ich bin Patti Smith begegnet? Ja! Und ich habe sie nicht erkannt, als sie da gerade irgendwo in einer Wiener Mehrzweckhalle ihre "Aria for Christoph" schrieb. Aber die Begegung mit ihm "gehört zu den wichtigsten meines Lebens"!
Zu den schönen Nebenbei-Erkenntnissen dieses Buches gehört, dass Patti Smith und Christoph Schlingensief nach einer ersten Begegnung in Bayreuth (!) eine Freundschaft verband, die bis nach Afrika reicht und sich vielleicht auch einem nicht näher zu definierenden gemeinsamen Interesse am Okkulten verdankte. Aber das ist Geraune, von dem es in diesem Buch leider eine Menge gibt.
"Man braucht Menschen, die einen in Momenten größter Not durch ihre bloße Existenz in der Welt halten."
Für Helene Hegemann war Christoph Schlingensief so ein Mensch. Patti Smith ist da eigentlich nicht so wichtig.