Nachwendekinder
Die DDR, unsere Eltern und das große Schweigen
Ines Geipel hat in ihrem sehr persönlichen Buch Umkämpfte Zone 2019 den Schatten nachzuzeichnen versucht, den das Schweigen über die Vergangenheit in den ostdeutschen Biographien seit dem 2. Weltkrieg hinterlassen hat. Zeitgleich schrieb der um einiges jüngere Journalist Johannes Nichelmann (Jahrgang 1989) an einem Reportagen-Band, der ihn anhand einer Handvoll Protagonisten direkt in die Kampfzone führt: in das Schweigen zwischen Eltern und Kindern in ostdeutschen Familien. Er beschäftigt sich mit den Nachwendekindern: der Generation von um die Wende geborenen Kinder, die im wiedervereinigten Deutschland aufwachsen und die DDR eigentlich nicht mehr kennen. Eigentlich. Denn die DDR ist in ihrer Kindheit äußerst präsent.
Nichelmann blickt aus zwei Perspektiven auf sein Thema. Im ersten Teil des Buches fragt er danach, "wie wir durch ein Land geprägt wurden, das wir nie gesehen haben", im zweiten Teil verfolgt er Versuche der Kinder, in die DDR-Vergangenheit der Eltern "einzubrechen".
Identitätsfragen
Ich stehe solchen Generations-Konstrukten etwas skeptisch gegenüber, und auch die von Nichelmann entworfene Generation der Nachwendekinder überzeugt mich nur so halb. Vielleicht auch deshalb, weil ich, Jahrgang 1978, da streng genommen nicht dazu gehöre: ich bin in der DDR aufgewachsen und auch zu wichtigen Teilen sozialisiert. Dennoch kann ich einige der von Nichelmann diskutierten "Identitätsfragen" durchaus nur nachvollziehen.
In meinen autobiographischen Skizzen über die Wendejahre habe ich beschrieben, welchen Einschnitt die Wiedervereinigung und ganz konkret der 3. Oktober 1990 für mich darstellte. Nie hätte ich gedacht, dass ich auch 30 Jahre später noch mit Emotionen und Prägungen aus dieser Zeit zu kämpfen haben werde. Aber schon die 1990er Jahre waren gezeichnet von den Nachwirkungen der Kindheit in der DDR und des darauf folgenden Bruchs, von dem Gefühl, zwischen den Stühlen zu sitzen, nirgendwo ganz zugehörig zu sein.
Die von Nichelmann portraitierten Nachwendekinder dagegen sind im Vergleich teilweise erstaunlich entschieden ostdeutsch; durch die "Veranderung von Anderen" etwa, wie Nichelmann beschreibt: durch die Zuschreibung, Ostdeutscher zu sein, und die sich daraus erst ergebene Identitätsbildung:
Wenn in Ostdeutschland ein Problem auftritt, dann ist es ein Problem von Ostdeutschland. Wenn in Westdeutschland ein Problem auftritt, dann ist es ein Problem von Gesamtdeutschland. Eine Redaktion auf dieses Phänomen ist eine Identitätsbildung der separierten Gruppe.
Oder durch eine Faszination an selbst nie erlebter DDR-Kultur, die dann zu so merkwürdigen Phänomenen führen kann, wie dem, dass ein heute 30jähriger leidenschaftlich gern Trabant fährt – als "Zeitmaschine". Dabei liegt es Nichelmann fern, zu verharmlosen. So beschreibt er – wenngleich nicht in der Dramatik, mit der das Ines Geipel in ihrem Buch tut – wie in der DDR die nationalsozialistische Vergangenheit nur unvollständig aufgearbeitet wurden:
Eine Aufarbeitung individueller Schuld und gesamtgesellschaftlicher Verantwortung hat es nie gegeben.
Ob die eigene Geschichte als ostdeutsches Kind im tiefsten Bayern oder die Suche nach den eigenen biographischen Wurzeln: viele der Fragen und Zerrissenheiten dieser Nachwendekinder kommen mir sehr vertraut vor. Nur wenn Nichelmann immer wieder auf das daraus resultierende ostdeutsche Zusammengehörigkeitsgefühl zu sprechen kommt, muss ich passen: das ist mir vollkommen fremd. Vielleicht doch eine Frage der Generation?
Einbruchsversuche
Johannes Nichelmann schwankt leider etwas unentschieden zwischen dem Erzählen von Geschichten und vorsichtigen Ausflügen in die Theorie. So unternimmt er zwar manchen Erklärungsversuch, seine Stärken hat das Buch aber in den persönlichen Geschichten - vor allem im zweiten Teil, wo Nichelmann der Frage nachgeht, wie man die DDR-Vergangenheit der Eltern und Großeltern thematisieren könne, ohne alte Wunden unberechtigt aufzureißen. Dazu unterhält er sich mit Roland Jahn, dem Leiter der ehemaligen Behörde für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes, und sitzt mit am Küchentisch, wenn seine Protagonisten ihre Eltern nach heiklen Punkten in ihrer Biographie befragen. Wie weit darf man für die Wahrheitssuche gehen? Gibt es ein unbedingtes Recht auf Aufklärung?
In den Gesprächen mit der Elterngeneration wird diese Frage immer wieder auch umgedreht: War denn alles schlecht? Hatten wir nicht auch ein gutes Leben? Müssen wir das jetzt alles bereuen? War alles falsch im "Unterdrückerstaat"? Oder nicht manches auch in Ordnung?
Wenn sich Nichelmann an seine eigene Kindheit erinnert, muss er feststellen:
Allerdings habe ich keine Sekunde daran gedacht, meine Mama über ihr Leben in der DDR kritisch zu befragen. Vielmehr habe ich begonnen, die DDR voller Leidenschaft und mit aller Kraft zu verteidigen. Es musste ein gutes Deutschland gewesen sein, sonst hätten die anderen Kinder ja recht gehabt. Ich wäre dann wirklich einem – ich übertreibe – fiesen Schurkenstaat entsprungen.
Genau das beschreibt auch meine Erinnerung. Ein großes Schweigen senkte sich über Teile der eigenen Identität. Ein großes Schweigen auch setzte in der Familie ein, weil Gespräche zu diesem Thema, wenn sie überhaupt geführt wurden, schnell festgefahren sind.
" Der Schmerz, sich anzuschauen, dass die eigene Biographie geformt wurde von einem totalitären Regime, von einer Diktatur und von vierzig Jahren dunkler deutscher Geschichte – ich bin so extrem, ich sag das so –, ist eigentlich noch gar nicht vorhanden. ... Am Ende gibt es da aber keinen Weg dran vorbei,"
sagt der Psychoanalytiker Max im Gespräch mit Nichelmann. Vielleicht haben wir noch viel zu reden – Vorwende- wie Nachwendekinder – bis Ostdeutschland kein Sonderfall mehr ist.