In die andere Richtung jetzt
Eine Reise durch Ostafrika
"Wenn Reisen seit jeher Selbsterkenntnis ist, dann beginnt sie damit, sich selbst zu relativieren."
Vor einigen Jahren, der Ukraine-Krieg lag für uns Mitteleuropäer noch weit weg, ließ sich mit Navid Kermani der "unentdeckte Kontinent" Osteuropa bereisen und entdecken – wenngleich noch lange nicht verstehen. Kermani auf seinen Reisen Entlang den Gräben zwischen Osteuropa und Isfahan zu folgen, führte vor Augen, welch reiche, fremde und zerrissene Welt direkt östlich vor unserer Haustür beginnt.
In den letzten Jahren ist der in Köln lebende Autor nun durch Ostafrika gereist, über einen Kontinent, der lange als "vergessen" galt und in der öffentlichen Berichterstattung der westlichen Welt immer noch nur am Rande vorkommt. Es verwundert also kaum, wenn Kermanis neue Reisereportagen über eine Reise In die andere Richtung jetzt mit Beobachtungen und Gesprächen aus den ärmsten und zerrüttetsten Staaten der Welt die eigene Weltsicht nachhaltig erschüttern. Zu recht, wie Kermani gleich auf den ersten Seiten betont: sei doch
"nichts, was auf dem afrikanischen Kontinent heute geschieht, kein Krieg, kein Nepotismus, keine Hungersnot, ohne die Hinterlassenschaft des Kolonialismus zu erklären".
Ein Anliegen Kermanis in diesem Buch ist es, auf all die toten Punkte und blinden Flecken in unserem Blick auf die Welt hinzuweisen und diese sichtbar zu machen. In die andere Richtung jetzt: dahinschauen, wo wir normalerweise (bewusst oder unbewusst) wegschauen. "Gerade erst", schreibt er, "fanden Medienforscher heraus, dass 85 Prozent der Weltbevölkerung lediglich 11 Prozent der Berichtungerstattung in Deutschland ausmachen." Wenn in Madagaskar Hunger herrscht, bekommt das hier kaum jemand mit. Umso länger der Hunger herrscht, umso weniger.
Ja: es sind neuralgische, schmerzende Punkte, auf die Kermani hinweist. Er trifft auf unvorstellbare Armut, auf von Hunger und Dürre gekennzeichnete Landstriche, auf sterbende Kinder, viel zu junge Mütter, auf Krieg, Folter, Misshandlung. Er findet auf seinen Reisen von Madagaskar bis in den Sudan allerorten Spuren des Kolonialismus ebenso wie des Klimawandels – von dem der afrikanische Kontinent in einem Ausmaß betroffen ist, das das Unrecht des Kolonialismus zu reproduzieren droht.

Kermani reist durch unsere Welt, nur in die andere Richtung eben: eine Welt, die zu uns gehört, auch wenn sie so fern von uns zu sein scheint. Er meidet die Allgemeinplätze der Medien und sucht überall das Gespräch – und die Kunst des Gesprächs und der authentischen Schilderung beherrscht Kermani wie kein zweiter.
So findet er – zum Glück, möchte man sagen – nicht nur Leiden, Hunger, Tod; er begegnet an jedem, an jedem Ort Menschen, die sich hingeben, die Kraft geben, die für etwas kämpfen, die helfen, Leid zu lindern. Nicht selten sind es Musiker, Künstler oder Priester, die für eine lebendige Hoffnung stehen. So heißt es etwa:
"Hoffnung liegt nicht in Entwicklungs-, geschweige denn Regierungspolitik, nicht in Indexen, Klimazielen oder Lieferketten. Hoffnung liegt in der Musik."