Peter Handke: Die Obstdiebin

Der Obstdiebin, dem sogenannten Letzten Epos, punktgenau zu seinem 75. Geburtstag veröffentlicht, hat Peter Handke drei Zitate vorangestellt, darunter eines aus der Bergpredigt:

"Wenn einer dich zwingt,
mit ihm eine Meile zu gehen,
geh mit ihm zwei."

Natürlich wird damit auf eines der Lieblingsthemen des Autors angespielt: das Gehen.

Hier wird nicht nur das Verhältnis der Hauptfiguren (des Erzählers und der Obstdiebin) auf den Punkt gebracht, sondern auch das zwischen Autor und Leser. Das lässt sich tatsächlich als Warnung verstehen: Peter Handke zwingt dich wieder einmal, eine Meile mit ihm zu gehen – und es überrascht nicht, dass aus der einen mehrere werden (oder es sich zumindest so anfühlt).

Vorweg

Mancher mag die große Erzählung, an der Handke – vielleicht seit der Langsamen Heimkehr? – schreibt, als Zumutung, als Irrsinn, als langweilig, nervtötend oder manieristisch empfinden. Wahrscheinlich nicht ganz zu unrecht. Ich hingegen verliere bei Handke schnell alle Objektivität, seit mich auf einem einsamen Südfrankreich-Trip kurz vor der Jahrtausendwende Mein Jahr in der Niemandsbucht begleitete; seitdem ist Handke auf so ziemlich allen Wegen irgendwie dabeigewesen.

Dabei weiß ich kaum zu beschreiben, was genau mir in Handkes Büchern begegnet oder geschieht: eine Verlangsamung, ein Freilaufen, Freiwerden, ein sich immer weiter öffnender Zwischenraum, eine lose Folge zufälliger, erleichternder, gar erlösender Blicke? Oder einfach nur die kauzige Hingabe an ein auf den ersten Blick zweckfreies Phantasieren (Poesie?)?

Aufbruch

Die Obstdiebin beschreibt eine dreitägige einfache Fahrt ins Landesinnere (so der Untertitel). Von Chaville, dem Pariser Vorort, in Handkes Topographie als Niemandsbucht bekannt, geht es auf knapp 600 Seiten und über drei Tage in die kaum 100 Kilometer entfernte Picardie.

An einem Mittsommertag wird der Erzähler von einer Biene gestochen und nimmt dies als Zeichen. Als Zeichen aufzubrechen. Mehr Begründung braucht es nicht, am Anfang nicht und auch im späteren Verlauf nicht. Psychologie, Erklärungen, Motivationen sucht man bei Handke vergeblich. Warum auch?

"Weniges in der Geschichte der Obstdiebin kam, wie es kommen mußte. Zeitweise kam es, wie es vielleicht kommen sollte. Die Regel freilich war, daß es kam, wie es kam."

Auch der Aufbruch, plötzlich, unvermittelt, dringend, zieht sich ohne Grund über 80 Seiten hin. "Alle Zeit auf Erden hatte ich plötzlich." Und wenn der Erzähler auf Seite 88 dann endlich im Vorort-Zug von Chaville nach Paris sitzt, ahnt man: Schneller wird's nicht.

Zwischenstrecken, zwischen Zeiten

Eher im Gegenteil: zwar wird die Erzählung pedantisch durch den Tagesverlauf, durch den regelmäßigen Einbruch der Nacht, durch Mahlzeiten strukturiert; gleichzeitig zeigt sich Handke vollkommen uninteressiert an einem Fortschreiten, einer Entwicklung, gar Zuspitzung der Handlung. Vielmehr folgt er – gleich seinen Protagonisten – jeder sich bietenden Abzweigung, spürt jedem Blick und Schritt nach und verliert sich in der von ihm erzählten Welt, die sich zusehend von der realen löst und undurchschaubarer, märchenhafter, dschungelhafter gerät.

Allein die teilweise seitenlangen Satzkonstruktionen (die auch durchaus manchmal verunglücken): Wie Neben- und Hauptsätze da zwischen den Zeiten und Orten oszillieren, kann eine voranschreitende Handlung gar nicht entstehen. Statt sich vorwärts zu erzählen, macht sich der Erzähler dieses Epos' in der Zeit breit, greift vor und zurück, verknüpft Erinnerungen, Visionen, Beobachtungen, öffnet den Raum und macht ihn weit, immer weiter.

"Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen", hieß es schon 1987 in einem Interviewband mit Handke. Durch die Geduld und Gelassenheit, mit der der Erzähler den Erzählstrom eben gerade nicht steuert, öffnen sich Zwischenräume, werden die Zwischenstrecken allesamt wichtiger als die Ziel- und Endpunkte.

Der "Geduldige", schlägt der Erzähler vor, könnte neben dem "Zeugen" und dem "Erzähler" einer der möglichen Namen für Gott sein. Und im Epos rät der Vater seiner Tochter, der Obstdiebin:

"Für Zwischenzeiten sorgen, möglichst viele."

Die Obstdiebin

Ach ja, die Obstdiebin: die titelgebende Figur begegnet dem Leser zunächst als Stimme, die den Erzähler "anfliegt". Eine Stimme, die fragt, leise, zart, bestimmt – in die "Schreckens- und Sterbensstille" der Gegenwart. Was fragt sie?

"Was fehlt Ihnen, mein Herr? Worüber sorgen Sie sich denn so?"

Ja, irgendwie ist die Obstdiebin auch eine Art Don Quijote, vom Erzähler auf eine Reise durch die als bedrohlich empfundene Gegenwart geschickt. Sieh genau hin, scheint diese Figur zu erzählen, Mensch und Tier sind deine Freunde. Keine Feinde, nirgends? Ganz so einfach macht es Handke dem Leser aber dann doch nicht; ein Eins-zu-Eins-Kommentar der Gegenwart würde dem auferlegten Verdikt der Zweckfreiheit widersprechen:

"Es lebe das Zwecklose – es muss nur praktiziert werden. ... Unsinniges machen und sehen, was dabei herauskommt."

Auf gewisse Weise ist das Erzählprojekt in diesem Epos genau das: unsinnig. So erklärt der Erzähler, die Obstdiebin sei das Ziel seiner Reise (wieso? wozu?) – und schon sitzt er im Zug. An der Grenze zur Picardie wird er dann mitten zwischen den Feldern aussteigen – und ganz plötzlich, auf Seite 136, verschwunden sein. Er geht auf in der Geschichte der Obstdiebin, die ihrerseits auf der Reise ist. Gerade nach Paris zurückgekehrt, fährt und läuft sie an drei Tagen "ins Landesinnere", eben dorthin, wo der Erzähler verschwunden war. Seine Tochter, seine Geliebte? Solche Fragen verbieten sich. Die Obstdiebin ist nicht mehr und nicht weniger als eine liebevolle, hingebungsvolle Fiktion, in deren Augen, unter deren Füßen "das Wirkliche an der Wirklichkeit" geschieht. Und der Erzähler macht keinen Hehl daraus, wer hier die Fäden zieht:

"Die Ereignisse, von denen die Geschichte hier erzählt, werden solche allein durch den Erzähler."

Vom Mitgehen und Mitnehmen lassen

Mit der Obstdiebin ist Handke eine wundersame Figur gelungen: zärtlich und verletzbar, stark und eigensinnig, selbstlos und unberechenbar, staatenlos, anarchistisch, voller Poesie. Schon allein die Betitelung dieser über weite Teile des Buches Namenlosen (und ihr Name später: reine Erfindung).

Als Kind wurde sie erwischt, wie sie aus einem Obstgarten eine Frucht mitgehen ließ; so wurde sie "Obstdiebin" gerufen: die etwas "mitgehen lässt".

Das hat weniger von einer Straftat, mehr von einer großen Freiheit. Die da mitgehen lässt, geht offenen Auges und mit offenen Armen durch die Welt, und sie lässt nicht nur Dinge, sondern vor allem Menschen mitgehen. Und die da mitgehen, lassen sich mitnehmen, werden mitgenommen, bleiben nicht dieselben.

Tatsächlich ist dieses Letzte Epos wie kaum ein anderes Buch von Handke geprägt von einer immensen Bedürftigkeit. Das Bedürfnis nach Gemeinschaft, nach Begegnung zieht sich wie ein roter Faden durch die Erzählung; herbeigesehnt werden immer wieder die Blicke der anderen, in denen allein Erkenntnis, Rettung möglich scheint. Gesehen, angeschaut, erkannt, berührt werden: das ist die Sehnsucht des Erzählers und seiner Figur.

Mitgehen – Mitnehmen, Suchen – Finden: die Einfache Fahrt führt durch die unübersichtliche und bedrohliche, kalte und verschwiegene Gegenwart hinein ins Landesinnere und hin zu einem Familienfest mit großer Festrede; und dann?

"Ab ins Weglose, Krumme."

Peter Handke: Die Obstdiebin. Oder: Einfache Fahrt ins Landesinnere. Suhrkamp 2017