Simenon lesen (4): Der Mann, der den Zügen nachsah
In Peter Handkes Erzählung Die Stunde der wahren Empfindung ist es ein im Traum begangener Mord, der den Protagonisten Gregor Keuschnig – nicht nur im Namen ein Verweis auf Franz Kafkas Gregor Samsa und dessen Verwandlung – aus den Gewohnheiten und Selbstverständlichkeiten seines Lebens fallen lässt.
Keuschnig ist jedoch nicht nur eine Variation kafkaesker Motive, sondern auch ein Wiedergänger von Kees Popinga, dem Mann, der den Zügen nachsah. In Georges Simenons gleichnamigen Roman erwacht der Protagonist aus einem unglücklichen, unerfüllten Leben, das er abwirft wie einen Mantel, um sich aus dem Staub zu machen. Wobei hier der Mord nicht nur im Traum geschieht.
Routine, Schweigen und Äußerlichkeiten beherrschen den Alltag des Angestellten Popinga, der eines Nachts in sich zusammenfällt. Wie Schuppen fällt es Popinga von den Augen: seine kleine, beschauliche und irgendwie triste Welt gleicht einem Kartenhaus aus Verlogenheit und Kompromissen – das wahre Leben will (und kann!) noch entdeckt werden. Seinen Chef vor Augen, der aufgrund eines dubiosen Doppellebens die Firma in den Ruin treibt und nun einen Selbstmord fingieren möchte, um seine Haut zu retten, begreift Popinga: Du bist ein anderer. Und niemand hat eine Ahnung wer.
Während die Welt Weihnachten feiert – bis heute ein Fest, das neben der Liebe viele Familientragödien bereithält, weil noch die besten Familien an zu viel Nähe und schwer zu erfüllenden Erwartungen scheitern – reist Popinga von Groningen über Amsterdam nach Paris. Auf dem Weg lässt er eine tote Frau zurück, so dass er bei der Ankunft in Paris offiziell als Krimineller gilt. Kaum die kleinbürgerliche Identität abgestreift, soll er sich schon mit einer neuen Identität abfinden?
Popinga, der zunehmend in das Milieu der Kleinkriminellen abgleitet, wehrt sich gegen eine solche Zuschreibung. In seinem Beharren auf einer authentischen Sprache ohne Urteile, in seiner Suche nach Verständnis zeigt er sich wiederum als Verwandter des Gregor Keuschnig aus Handkes Erzählung.
Denn Georges Simenon lotet mit Der Mann, der den Zügen nachsah, nicht nur meisterhaft die Möglichkeiten des Kriminalromans aus, sondern studiert darüber hinaus die Grenzen und Paradoxien bürgerlicher Identität. Was geschieht, wenn jemand alles hinter sich lässt und auf größtmöglicher Offenheit, Ehrlichkeit, Authentizität besteht?
Er fällt aus einer Gesellschaft heraus, die sich über Verabredungen, Konventionen und oftmals starre Regeln definiert. Und verstrickt sich bei seinem Bemühen um eine möglichst wirklichkeitsgetreue Sprache wiederum selbst in Lügen und Fiktionen. Ein Außerhalb, den nackten Menschen, gibt es nicht – und wenn es ihn gäbe, wäre er kaum überlebensfähig. Popinga endet – hierin fast ein wenig Georg Büchners Lenz ähnelnd - in der Psychiatrie.
Noch dort besteht Popinga auf der Deutungshoheit über seine Geschichte und will seine Memoiren niederschreiben: "Die Wahrheit im Fall Kees Popinga". Es bleibt bei der Überschrift. Was das bedeuten soll? Simenon gelingt es, bei aller Kürze die ungelöste Frage mit ihrem ganzen Beunruhigungspotential an den Leser weiterzugeben.
Erstaunt blickte der Arzt auf und schien sich zu fragen, weshalb sein Patient nicht mehr geschrieben hatte. Und Popinga fühlte sich verpflichtet, mit einem gezwungenen Lächeln zu murmeln: "Es gibt keine Wahrheit, oder?"
Georges Simenon: Der Mann, der den Zügen nachsah. Neuübersetzung von Ulrike Ostermeyer. Mit einem Nachwort von Axel Hacke. Kampa Verlag 2019