Der geglückte Tag
Der geglückte Tag beginnt vor dem Sonnenaufgang, im Licht einer Kerze auf dem Meditationskissen. Ich habe Zeit. In aller Ruhe bereite ich den Frühstücksbrei, bevor ich die Kinder wecke, die - zumindest an besonders geglückten Tagen - fröhlich aufstehen und voller Appetit das Frühstück in sich hineinschaufeln. Das Radio bleibt aus, die E-Mails können warten.
Morgengebet in einem (1) Wort: "Laß!",
notiert Peter Handke in Vor der Baumschattenwand nachts.
An einem geglückten Tag finde ich Zeit für die regelmäßige Morgenlektüre. Seit einiger Zeit gehören dazu eine Bibelstelle und ein kurzer Bolderntext. Ich gehe ohne Zeitnot aus dem Haus und komme nicht erst drei Minuten vor Abfahrt des Zuges auf dem Bahnhof an. Geglückte Tage beginnen mit dem zwanzigminütigen Gang die Bahnhofsstraße hinauf; den Bus lasse ich links liegen. In der Bahnhofsbuchhandlung stöber ich an solchen Tagen durch die Zeitschriften und kaufe nichts.
Über den Feldern liegt Nebel. Die Sonne scheint. Sanft, klar und bestimmt.
Natürlich sollte mir die Arbeit glücken an einem geglückten Tag. Doch was heißt das? Dass ich Zeit habe für alle Aufgaben, zum Beispiel. Dass ich konzentriert und ohne Unterbrechung an einem Projekt arbeiten kann. Dass am Ende des Tages ein Ergebnis steht, das man so stehen, mit dem man am nächsten Tag weiterarbeiten - oder das man so lassen - kann. Dass ich helfen kann. Dass andere Meinungen auf die meine treffen und ich durch sie lernen kann.
An einem geglückten Tag esse ich mit meiner Frau Mittag im Park. Wir trinken Espresso in der Sonne. An einem geglückten Tag brauche ich keinen Kuchen. Dafür schmeckt der Apfel köstlich, in den ich beiße, ohne an etwas anderes zu denken.
Gitarre spielen, schreiben, ein Buch lesen: der Tag rundet sich, wenn ich dazu noch Zeit für die Kinder habe. Ich schenke einem Fremden ein Lächeln und schließe vorsichtig eine Tür. Zum Abendbrot zünden wir eine Kerze an und bleiben nach dem Essen sitzen, um einander von unserem Tag zu erzählen.
Wie endet der geglückte Tag? Wir rauchen eine abendliche Zigarette, und es bleibt bei dieser einen. Wir lesen einander aus Büchern vor, die uns beschäftigen. Bevor ich nach oben gehe, schaue ich nach der Großen. An einem geglückten Tag ist sie eingeschlafen, während ich ihr vorlese. Die Kleine schläft friedlich und tief. Ein Moment Stille im Licht einer Kerze und das Gefühl von Dankbarkeit, während die Sorgen über den nächsten Tagen ruhen: so - und mit ein paar Buchseiten im Bett - endet der geglückte Tag.
An einem geglückten Tag muss nicht alles glücken. Doch alles genügt. Das gelingt nicht immer, vielleicht zu selten: doch auch das gehört zum geglückten Tag.