Über die Berechnung des Rauminhalts II
Moment, ist schon wieder der 18. November? Ist schon wieder ein Jahr vergangen? So fragt sich ja manche*r angesichts der immer schneller werdenden Zeit: Ups, wieder ein Jahr älter. Und ist es nicht erst ein paar Monate her, dass ich ein ganzes Buch über diesen einen Tag im Jahr las? Den Romanen der dänischen Autorin Solvej Balle ist es wohl zu verdanken, dass der 18. November eines Tages zum europäischen Groundhog Day gekürt wird. Er muss sich nur noch oft genug wiederholen.
In Über die Berechnung des Rauminhalts I steckte die Antiquarin Tara Selter in einer merkwürdigen Zeitschleife fest: jeden Morgen erneut erwachte sie am 18. November, und sie erlebte den immer gleichen Tag, während die Welt um sie herum immer ganz frisch aus dem 17. kam und in den 19. ging. Das Präteritum ist an dieser Stelle allerdings unangebracht: Auch in Über die Berechnung des Rauminhalts II „irrt“ Tara Selter in ihrem achtzehnten November herum. Die Suche nach einem Ausgang aus der Zeitschleife hat sie längst aufgegeben. Der Roman setzt ein mit Tag #368 und endet mit Version #1144 dieses Tages. „Eine Änderung ist nicht in Sicht“, schreibt Selter in ihre Aufzeichnungen, die uns mit diesem Roman vorliegen.
Dass die ewige Wiederholung keineswegs langweilig wird, sondern eine eigene Dynamik entwickelt, ist das Faszinierende an den Romanen von Balle. In diesem zweiten Teil der angekündigten Tetralogie muss die Protagonistin dazu erst einmal durch das Tal der Einsamkeit und der existenziellen Zweifel:
“Ich bin es, die hier nichts mehr zu suchen hat. Ich laufe in denselben Straßen, aber was mich trägt, sind nur Routine und alte Gewohnheiten. Ich hatte immer gute Gründe, hier zu sein, aber jetzt fühle ich mich überflüssig.“
Das Gefühl der Leere greift nach ihr. Die Zeit, die fortlaufende Zeit mit ihrem Potential für Entwicklungen, gibt dem Leben aller Menschen Sinn und Richtung. Der Grund zum Aufstehen: er kommt auch daher, weil wir jeden Tag neu aufstehen. Der Grund für unser Handeln: liegt nicht selten in der Zeit, in der etwas wächst, sich entwickelt, an Wert gewinnt, eingetauscht wird. Gefangen im Stillstand und in der Einsamkeit derjenigen, die meist schon weiß, was passiert, entschließt sich Selter, ihre Zeit zu schaffen:
“Ich wünsche mich aus dem November heraus und in eine Welt mit Jahreszeiten hinein.“
Und so beginnt ein absurdes Roadmovie auf Schienen, denn Tara Selter fährt den Jahreszeiten quer durch Europa hinterher. Winter im November? Norwegen. Ostern im November? Auf in den Süden! Sie merkt, dass das im Leben der anderen keineswegs ohne Spuren bleibt, dass sie durch ihre unvorhergesehene Anwesenheit zum Teil merkwürdige Ereignisse provoziert. Als sie sich dann irgendwann wieder im Herbst in Deutschland einrichtet, beginnt sie ihren Reisen eine neue Richtung zu geben: sie reist, Tag für Tag, durch die Zeit.
Auch der zweite Teil dieser Tetralogie ist ein stilles poetisches Kleinod, das die Gesetze der Realität aushebelt und mit ihnen spielt. Sehr zur Freude der Leser*\innen, die wie ich die 18. November zählen dürften, bis sie den dritten Teil von Solvej Balles Romanprojekt in den Händen halten.