Die Zeit der leeren Kirchen
Von der Krise zur Vertiefung des Glaubens
Was macht einen Christen zu einem Christen, wenn der traditionelle "kirchliche Betrieb" plötzlich aufhört zu funktionieren?
Diese Frage, der der Prager Pfarrer Tomáš Halík in einer Reihe von Predigten während der Fasten- und Osterzeit im Frühjahr 2020 nachging, ist sicher nicht die dringlichste Frage, die sich während der corona-bedingten Lockdowns stellte. Aber sie ist symptomatisch für eine ganze Reihe von Fragen, die diese Krisenzeit aufwarf: Was ist für jede*n Einzelnen essentiell, was verzichtbar? Welche Veränderungen werden gar als befreiend erlebt, welche Umbrüche als Infragestellung? Was braucht es für ein gutes Leben? Und was für ein gutes Gemeinwesen? Wie stellen wir uns eigentlich vor, die Probleme der Zukunft zu meistern?
Es ist notwendig, sich realistisch, ohne Konfusion, aber auch ohne Illusionen und billige Trostversprechen auf ernstere und längerfristige Veränderungen in den verschiedensten Bereichen unseres Lebens vorzubereiten – und zwar auch im religiösen Bereich.
Tatsächlich, so ahnten wir bald, würde die Welt nach Corona eine andere sein. Das spürte man natürlich auch in den Kirchen, die plötzlich vor einem in dieser Art nie dagewesenen Gottesdienstverbot standen (Halík weiß da aber auch einiges aus der Zeit des Sozialismus zu erzählen). Die Religion, deren Selbstverständnis auf Gemeinschaft, Nähe und Anwesenheit basiert, sah sich plötzlich mit Kontaktverboten konfrontiert. Ausgerechnet rund um das wichtigste Fest des Christentums hatte eine Zeit der leeren Kirchen begonnen. Halík, dessen Predigten nun unter diesem Titel als Buch veröffentlicht wurden, begriff diese Fastenzeit der gesteigerten Zumutungen als eine "Zeit der Wende": als Vorgeschmack auf die Zukunft der Kirchen und als Möglichkeit, dem Geheimnis des Glaubens nachzuspüren:
Eine Zeit, in der wir statt leerer Worte vor Gott schweigen können und in der wir auch Augenblicke des Schweigens Gottes aushalten, damit wir dann wieder klarer seine Stimme hören können.
Wir erinnern uns: vor Ostern 2020 sprossen allerorten die digitalen Angebote aus dem Boden. Auch die Kirchen, zunächst noch holprig unbeholfen, machten mit. Kindergottesdienste, Andachte, Gottesdienste, Konzerte, Youtube, Zoom, Podcasts: alles nur Denkbare wurde probiert (auch ich habe mich beteiligt. Auch der Fernsehgottesdienst feierte seine Auferstehung. Religionsausübung wurde plötzlich Teil des sowieso schon immer vorhandenen medialen Overkills. Das meiste ließ mich eher kalt, vor allem da, wo analoge Formate wie z.B. der Gottesdienst mehr oder weniger 1:1 ins Digitale übertragen wurden. Ausnahmen gab es dort, wo neue Formate gefunden wurden. Dankbar blicke ich zurück auf einen zoom-Council mit Anne-Maria Apelt oder das morgendliche Zazen auf Zoom.
Der Katholik Halík steht digitalen Ersatzangeboten ebenfalls – wenngleich sicher aus anderen Gründen als ich, der Jung-Protestant – skeptisch gegenüber. In seine Predigten macht er Mut, zu anderen Säulen christlicher Spiritualität zurückzukehren:
Vielleicht werden wir durch diese Ereignisse aufgefordert, unseren bisherigen rasenden Lebensrhythmus anzuhalten und im kontemplativen Nachdenken eine andere, tiefere Antwort zu suchen.
Er wendet sich gegen Oberflächlichkeit, gegen religiösen Fundamentalismus und beharrt – in Krisenzeiten noch mehr als sonst – auf gelebter Nächstenliebe. Er warnt vor Verschwörungstheorien, Wissenschaftsfeindlichkeit und christlicher Überheblichkeit und arbeitet in den kurzen Predigten aufs Deutlichste hinaus, wo Aufgabe und Zukunft der (christlichen) Spiritualität liegt: in der Gegenwärtigkeit.
Ich habe nicht das Recht, Gott zu bekennen, wenn ich den Schmerz und das Elend meiner Nächsten nicht ernst nehme. ... Dem christlichen Glauben stellt sich Gott als ein verwundeter Gott vor – weder als der apathische Gott der Stoiker noch als ein Gott, der die Projektion unserer Wünsche oder das Symbol der Machtambitionen eines Menschen oder einer Nation ist. Es ist ein sym-pathischer Gott, das heißt ein mit-fühlender, mit-leidender, mit-leidenschaftlicher.
Die Pandemie scheint vorbei, die Beschränkungen sind es jetzt, Ende Juni 2021, fürs Erste. Die Menschen nehmen dankbar den Faden wieder auf, wo er vor Monaten abgerissen war. Auch die Zeit der leeren Kirchen ist zuende. Man wünscht sich, dass wir das Innehalten, das im Jahr 2020 aus der Not geboren wurde, als Tugend wiederentdecken und erhalten können. Und den christlichen Glauben als "Abenteuer des Denkens", als Frage nach Gott, als lebendige Weggemeinschaft zu einer besseren Welt begreifen – nicht als religiöse Routine und oberflächliche Antworten auf die Herausforderungen der Gegenwart.