3 x Dylan

Es gibt Platten, die verbinden einen mit ganz bestimmten Erinnerungen aus der Vergangenheit; es gibt Musik, an denen hängen Geschichten, Emotionen, Beziehungen; und so sind verschiedenste Musiker*innen Wegbegleiter, seit sie mich durch bestimmte Phasen wie Kindheit (Rio Reiser), Jugend (Nick Cave) oder Studium (Blumfeld) begleiteten. Bob Dylan gehört da irgendwie nicht dazu.

Nicht nur, dass ich lange einen großen Bogen um den Sänger machte, der dieser Tage seinen 80. Geburtstag feierte. Seine Musik sprach nicht zu mir, erschloss sich mir nicht – und trat dann mit einem Snare- (nein, nicht Pauken-) Schlag in mein Leben. Für meine Inszenierung von Das Hotel New Hampshire nach dem Roman von John Irving grub ich mich 2008 tage- und wochenlang durch die amerikanische Musikgeschichte, von den 1940ern bis in die 70er Jahre, und wurde dabei von Like a Rolling Stone (1965) förmlich überrollt.

Was dann folgte, ist so vielleicht nur bei Bob Dylan denkbar: Ich ertrank förmlich in seinem Werk. Mehr als ein Jahr liefen bei mir ausnahmslos Dylan-Platten, Bücher stapelten sich, der Besuch eines Konzertes seiner Neverending Tour gehörte bis zum Einsetzen von Corona zum festen Bestandteil jedes Konzertjahres. Ausstellungsbesuche folgten, Filme und jetzt zum Jubiläum zahlreiche Podcasts. Trotz allem Engagement und aller Auseinandersetzung: So richtig vertraut wurden wir nie.

Emotionale Bindung zu einer Dylan-Platte, weil sie in einer entscheidenden Phase meines Lebens auf und ab lief? Fehlanzeige. Dafür aber ist jedes Album, jede Wiederbegegnung verlässlich für Überraschungen und neue Entdeckungen gut. Ein Rest Fremdheit, Überforderung, eine Frage bleibt immer. Dylan bleibt, bei aller Beschäftigung mit ihm, ein Geheimnis, ein Rätsel, ein Faszinosum.

Rund um den 80. Geburtstag gab es wieder endlos viele Möglichkeiten, sich dem "Meister" zu nähern und neue Blicke auf sein umfangreiches Werk zu werfen. Eine kleine subjektive Auswahl:

Die Interviews

Bob Dylan: Ich bin nur ich selbst, wer immer das ist. Gespräche aus sechzig Jahren. Herausgegeben von Heinrich Detering. Kampa Verlag 2021

Der deutsche Literaturwissenschaftler Heinrich Detering hat schon vor einigen Jahren eine sehr knappe, aber äußerst lesenswerte Biographie über Bob Dylan veröffentlicht; nun hat er für die tolle Interviewreihe Kampa Salon des Schweizer Kampa Verlags einen umfangreichen Band mit Interviews zusammengestellt.

Auf über 300 Seiten versammelt Ich bin nur ich selbst, wer immer das ist elf Interviews aus der gesamten Karriere Dylans – eine Schatzkammer für jeden, der an dem Jubilar interessiert ist. Im frühesten Radio-Interview von 1962 steht Dylan kurz vor der Veröffentlichung seines Debüt-Albums; im letzten Interview von 2020 spricht er über sein letztes Jahr erschienenes Album Rough and Rowdy Ways, über Corona und George Floyd.

Was als erstes auffällt: Der für seine seltenen Interviews berüchtigte Nobelpreisträger ist äußerst gesprächig, wenn man ihn lässt. Die teils erstaunlich langen Gespräche stellen daher auch eine Würdigung eines engagierten, an tiefgründigen Gesprächen interessierten Musikjournalismus dar. Sie erzählen auch eine Entwicklungsgeschichte: In den 1960er Jahren kämpft Dylan gegen Projektionen und Zuschreibungen, die er mit beißender Ironie und subversiver Koketterie unterläuft. Es ist ein großes Vergnügen, diese Mitschriften von Pressekonferenzen und Gesprächen zu lesen, die Dylan kurzerhand in Performances verwandelt. Über die Jahrzehnte werden die Interviews sachlicher und vor allem zu einer Fundgrube für die Musikgeschichte der letzten 50 bis 100 Jahre.

Auch wenn man den Eindruck hat, Dylan hier so nahe zu kommen wie sonst kaum einmal, bleibt dennoch – wieder einmal – ein rätselhafter Rest. Denn all diese Interviews sind, das analysiert Detering in einem kenntnisreichen Vorwort, eben immer auch Performances, Inszenierungen. Sie sind Teil des Gesamtkunstwerkes Dylan. Und somit als Kunststücke ebenso schillernd, verdichtet und anspielungsreich wie seine Songs. Man sollte beim Lesen also durchaus auf der Hut sein, was man hier wem glauben darf oder eben auch nicht.

Die Country-Versionen

Emma Swift: Blonde on the tracks (2020)

Das erste, was vielen bei Dylan einfällt, ist sein Gesang. Das Näselnde, das gegen manches melodische Gespür bewusst Verstoßende, das unverständlich Weggenuschelte: es ist eine Konstante in Dylans Schaffen, die viele desinteressiert abwinken lässt. Nicht zufällig wurden viele seiner Songs vor allem in Cover-Versionen berühmt. Bei den Eröffnungstakten von Blonde on the Tracks der australischen Sängerin Emma Swift wähnt man sich auch gleich in guter Nachbarschaft zu etwa den Byrds (und ihrem Cover von Mr. Tambourine Man). Hervorragend produzierte, sorgsam instrumentierte Musik, die fast ein wenig zu glatt, zu nett, daher kommt. Die County-Sängerin Swift braucht jedoch keine zwei Strophen von Dylan's Queen Jane Approximately, um den Eindruck zu entkräften.

Denn das, was sie mit den folgenden acht Cover-Versionen macht, ist keineswegs im Blick auf Radio- und Massentauglichkeit produziert, sondern eine zutiefst mitreißende, kraftvoll authentische Auseinandersetzung mit Dylans Schaffen mit den Mitteln der Country-Musik. Der Song war kaum erschienen, da coverte Swift im Frühjahr 2020 auch schon I Contain Multitudes: dem Alterswerk entlockt die junge Sängerin mit glasklarer Stimme einige neue Töne, deren Faszination gerade in dem Kontrast zwischen dem vermeintlich erfahrungsgesättigten Text und der Jugendlichkeit der Sängerin liegen. Hinzu kommt, dass man dem Text Wort für Wort folgen kann – ein Vergnügen, das Dylan den Hörer*innen ja meist versagt.

Song für Song lässt sich so Dylan (neu) entdecken. Die Auswahl umspannt die gesammte Karriere des Sängers und macht auch nicht halt vor dem 12minütigen Epos Sad Eyed Lady of the Lowlands oder dem Klassiker Simple Twist of Fate. Mit Unterstützung von Robyn Hitchock und Patrick Sansone (Wilco) ist hier eines der besten Cover-Alben von Bob Dylan entstanden, die ich kenne (es gibt ja so einige) – und das aus einer Schreibblockade heraus. Es heißt, Swift wäre nach Nashville gekommen, um eigene Musik zu produzieren, doch das gelang ihr nicht. Bob Dylan's Songs waren ihre Rettung – und unser Glück.

Das Radio

Theme Time Radio Hour. With your Host Bob Dylan. Alle Folgen sind online zu hören unter www.themetimeradio.com

It’s night time in the big city
Rain is falling, fog rolls in from the waterfront
A night shift nurse smokes the last cigarette in a pack

Damit begann im Mai 2006 die erste von vorerst 100 Radioshows, die Bob Dylan bis 2009 über Sender Sirius XM ausstrahlte. Zwei weitere Episoden folgten 2015 und 2020. Jede Sendung hatte ein Thema, zu dem Dylan passende Musik spielte – die "themes, dreams and schemes" reichten vom Wetter über Mann und Frau bis hin zur Bibel und zum Krieg. Eigentlich dienten sie aber nur als loser Rahmen für das, was im Laufe der Jahre sowieso immer deutlicher in Dylan's Schaffen in den Vordergrund getreten ist: die Würdigung einer Tradition von Sängern und Sängerinnen, die bei der Theme Time Radio Hour bis in die Frühzeit der Plattenaufnahmen und des Radios zurückreicht – und im Kontext der Nobelpreisverleihung an Dylan bis zu Ovid verlängert wurde.

Dabei ist die Theme Time Radio Hour vor allem eins: extrem unterhaltsames und fesselndes Radio. Im Grunde belebt Bob Dylan als nächtlicher Moderator ein Format wieder, das ihn wie viele andere in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts noch unter der Bettdecke geprägt hat. Eine Radiomoderation, die sich sich zurücklehnt und Geschichten erzählt, feinfühlig, witzig, sinnlich, und die das Zeug hat, die Zeit anzuhalten, wechselt mit ebenso sorgfältig zusammengestellter Musik – wobei Dylan hier erstaunlich weit zwischen Genres und Musikergenerationen wechselt. Natürlich sitzt auch hier jedes Wort, ist jede Wortmeldung des Moderator ebenso wie ein Gespräch mit Gästen oder Hörern verdichtet und anspielungsreich – wie immer bei Dylan. Vor allem aber ist diese Radioshow, zumeist aufgenommen on the road während der Neverending Tour, eine meisterhafte Inszenierung, eine gelungene Fiktion: das Radiostudio in der big city, das man vor Augen hat, während man der Sendung lauscht, hat es nie gegeben. Stattdessen den Tourbus oder das Hotel.

Eine Überforderung stellt die Theme Time Radio Hour dennoch dar, es kann eigentlich gar nicht anders sein. Es gibt kaum ein geeigneteres Format, um sich endgültig in den Weiten der amerikanischen Popkultur zu verlieren. Aber wenn nicht mit Bob Dylan als Reiseführer, wie dann?