Die Nickel Boys
Ich gebe zu: die Serien-Adaption von Underground Railroad habe ich nicht zu Ende gesehen. Die Bilder von Barry Jenkins mögen so verstörend wie betörend sein; in ihnen geht etwas verloren, was die Romane von Colson Whitehead so schmerzhaft macht: dieser enorme Detailreichtum, diese qualvolle Präzision, mit der Whitehead die Abgründe des amerikanischen Rassismus der letzten Jahrhunderte ausmalt. Was die Leser*innen (in dem Fall mich) bis an die Grenze der Selbstüberwindung führt: man möchte nicht weiterlesen, muss es aber doch, weil das Beschriebene so unfassbar realistisch und abstrus zugleich ist, so spannend wie grausam – und getragen von Figuren, die man einfach nicht aus dem Auge verlieren kann.
Mit dem Nachfolger von Underground Railroad, dem ebenfalls mit dem Pulitzerpreis ausgezeichneten Roman Die Nickel Boys von 2019 reist Whitehead nun beinah in die Gegenwart Amerikas: wenn der Roman setzt, leben viele der die einstigen Insassen der Besserungsanstalt Nickel Academy noch. Ein Friedhof wird auf dem ehemaligen Anstaltsgelände gefunden – und zwar nicht der offizielle Anstaltsfriedhof, sondern ein geheimer zweiter. Die gefundenen Leichname mit verschiedensten Spuren von Gewalt geben Rätsel auf. Schon lebt die Vergangenheit wieder auf – auch für Elwood Curtis, den Protagonisten des Romans, der auch von James Baldwin hätte erfunden werden können. Erfunden? Wie bei Underground Railroad beruft sich Whitehead mit diesem weiteren erschütternden Roman auf Fakten, die die Ausgangsbasis für seine Erzählung bilden.
Wir reisen zurück in die 1960er Jahre und lernen einen farbigen Jungen kennen, der trotz des Rassismus seiner Zeit scheinbar unbeirrt seinen Weg geht. Selbst das College steht Elwood offen – doch bevor er am ersten Schultag die Schule betritt, wird er unschuldig verhaftet und gelangt in die berüchtigte Besserungsanstalt, in der die schwarzen Jungs noch schlechter dran sind als die weißen, und in deren Mitte eine Baracke – das "Weiße Haus" – als Drohung und Folterdozimil steht. Genauso unschuldig, wie er verhaftet wurde, landet Elwood auch gleich in der ersten Nacht in der Folterzelle. Fortan erleben wir diesen Jungen, wie er versucht, seine Menschlichkeit gegen alle Brutalität und alle Widrigkeiten zu behaupten. Eine ebenso schillernde und starke Figur wie Whiteheads Cora in Underground Railroad – mit einem ebenso verblüffenden Schicksal, das Whitehead erst auf den letzten Seiten des Romans auflösen wird.
Ähnlich wie im Vorgänger erzählt Whitehead auch in den Nickel Boys nicht nur sehr unmittelbar von dem nur scheinbar historischen Rassismus, sondern liefert auch eine leise Utopie: wie da jemand dem System aus Strafe und Vergeltung zu entkommen vermag und incognito eine neue Existenz aufbaut. Es scheint die Möglichkeit von Versöhnung auf, die sich, daraus macht Whitehead kein Geheimnis, mit ihrer schieren Unwahrscheinlichkeit quer zur Gegenwart stellt: leise und beharrlich immer noch einfordernd, dass Gewaltlosigkeit und Gleichberechtigung möglich sind.