Nach der Flut das Feuer
Im Sommer auf dem Blumfeld-Konzert: Jochen Distelmeyer fragt das Publikum, wie der neue König der Löwen denn sei. Und stürzt sich – nicht sonderlich interessiert an einer Antwort – in einen philosophischen Diskurs über den Unterschied zwischen Identität und Identifikation. Identifikationsangebote, so Distelmeyer, seien ja trügerisch, denn sie könnten nie die eigene Identität ersetzen. Identität bedeute, man selbst sein zu können. Dazu bräuchte es nicht Identifikation sondern: Liebe.
Liest man James Baldwins pathetische, bei allem Furor aber erstaunlich klare Essays, die 1963 unter dem Titel The Fire Next Time erstmals und nun in deutscher Übersetzung von Miriam Mandelkow neu veröffentlicht wurden, begegnet man diesem Gedanken in aller Deutlichkeit:
Kurz gesagt brauchen wir, Schwarz und Weiß, einander dringend, wenn wir wirklich eine Nation werden wollen – um mit anderen Worten wirklich eine Identität zu erlangen, unsere Reife als Männer und Frauen.
Baldwin schildert in diesem Band nicht weniger als den Weg zu sich selbst. Weg von Identifikationsangeboten, raus aus identitärem Schubkastendenken hin zu einem freien, bejahenden und liebenden Leben. “Menschen schließen sich immer nach Prinzipien zusammen,“ so schreibt er: Prinzipien,
die nichts mit Liebe zu tun haben, Prinzipien, die sie von persönlicher Verantwortung entbinden.
Der Kerker bebte
Der Band versammelt zwei Essays. Unter dem Titel Mein Kerker bebte schreibt Baldwin einen Brief an seinen Neffen, in dem er den Empfänger eindringlich daran gemahnt, sich den rassistischen Zuschreibungen in seinem Heimatland nicht zu ergeben, und seziert damit – ähnlich wie in seinen Romanen – den Rassismus als soziale und politische Ideologie:
Bitte vergiss nie, dass das, was sie glauben, dass das, was sie tun und Dir zumuten, nicht von Deiner Minderwertigkeit zeugt, sondern von ihrer Unmenschlichkeit und Angst.
Baldwin verortet den Ursprung der Rassenideologie in der Angst der Machthaber: vor dem “Verlust ihrer Identität”. Dieser Angst könne man nur selbstbewusst begegnen, im Bewusstsein der eigenen Identität und unter Verzicht auf Gegengewalt. Wenn das Wort Integration überhaupt etwas bedeute, so Baldwin, dann,
dass wir unsere Brüder mit Liebe dazu zwingen werden, sich selbst so zu sehen, wie sie sind, dass wir nicht länger vor der Wirklichkeit davonlaufen, sondern sie nach und nach ändern. ... Wir können erst frei sein, wenn sie frei sind.
Vor dem Kreuz
Der zweite, längere Brief aus einer Landschaft meines Geistes entfaltet diese auf knappsten Raum vorgebrachte These in einem Panorama, das vom christlichen Glauben bis zur Nation of Islam reicht, viele persönliche Umwege und manch erzählerischen Ausflug nimmt, in seinem Pathos heute manchmal etwas überfordert – sich aber letztlich von bedrückender Aktualität und visionärer Radikalität erweist. Denn Baldwin beschreibt einen Mechanismus von Unterdrückung und Gewalt, der sich eben nicht nur auf den amerikanischen Rassismus, sondern auf jede Form von Abgrenzung und Ablehnung Anderer (Andersdenkender, Andersglaubender, Anders-Scheinender) anwenden lässt.
Da sieht Baldwin die Menschen, die von der Gesellschaft die Selbstverachtung eingeimpft bekommen. Und er beschreibt einen Glauben als Antwort auf die erfahrene Ausgrenzung, der anstelle von Barmherzigkeit und Liebe zu einer Festung für die eigene Identität wird, zu einem Identifikationsangebot, das Sicherheit durch Abgrenzung und Rückzug verspricht. In der Pfingstgemeinde, in der Baldwin als jugendlicher Prediger für (religiöse) Begeisterung sorgt (was man sich sehr gut vorstellen kann), findet er irgendwann keine Liebe mehr: Die Kirche “war ein Deckmantel für Hass, Selbsthass und Verzweiflung.”
Wenn Gott als Idee überhaupt einen Wert oder Zweck hat, kann es nur der sein, uns größer, freier und liebevoller zu machen. Wenn Gott das nicht schafft, ist es an der Zeit, ihn loszuwerden.
Baldwins “Festung” bröckelt. Den schmerzhaften, aber befreienden Prozess hat er in seinem – ebenfalls jüngst neu übersetzten – Roman Nicht von dieser Welt ausführlich geschildert. Die Kraft der Barmherzigkeit, die er in der christlichen Kirche vermisst, sieht Baldwin ein Stück weit in der Nation of Islam – allerdings bleibt er in Distanz, bleibt skeptischer Beobachter. Ausführlich schildert er die Begegnung mit Elijah Muhammad, dem Gründer dieser Bewegung, die der vermeintlichen Überlegenheit des weißen Christentums selbstbewusst ihre Wahrheit entgegensetzt: Gott ist schwarz. Und der Islam ist auf dem Siegeszug, die weiße Vorherrschaft zu beseitigen. Es geht darum, Macht durch Macht zu ersetzen, eine Gruppe gegen eine andere in Stellung zu bringen.
Ich bin gegen jeden Versuch, den Schwarze unternehmen könnten, anderen anzutun, was ihnen angetan wurde.
“Es gibt so viel, was wir über uns selbst nicht wissen wollen.” Das eint Schwarze wie Weiße und macht sie zu Gefangenen ihrer eigenen Weltsicht. Dem stellt Baldwin seine eigene, radikale Vision eines Menschseins jenseits sozialer Konstruktionen entgegen – eines Menschseins in Freiheit und Liebe. Voraussetzung: die eigene Angst, die Wurzel des Hasses zu erkennen.
Die Verantwortung freier Menschen liegt darin, den Konstanten des Leben zu trauen und sie zu feiern – Geburt, Kampf und Tod sind Konstanten genau wie die Liebe, auch wenn uns das nicht immer so scheinen mag – und das Wesen von Veränderung zu erfassen, zur Veränderung fähig und bereit zu sein.
Ein Leben jenseits von Angst. Was für eine Aufgabe – für Weiße wie Schwarze, überall auf der Welt. Wobei Baldwin Hautfarbe nicht als menschliche sondern als “politische Realität” verstanden wissen will. Denn das Selbst, der freie, lebendige, liebende Kern des Menschen liegt jenseits solcher Zuschreibungen.
Underground Railroad
Wenn man ständig das Schlimmste überlebt, was das Leben bringen kann, lässt man sich irgendwann nicht mehr von der Angst beherrschen vor dem, was das Leben bringen kann; was kommt, muss getragen werden,
schreibt Baldwin in seinem Essay. Was das heißt, lässt sich aufs Intensivste in Colson Whiteheads Roman Underground Railroad miterleben. In seinem historisch-fantastischen Roman schickt Whitehead die junge Sklavin Cora mit der – real existierenden – Underground Railroad auf – fiktiven – Untergrundzügen auf eine lange Reise in die Freiheit.
Den Stationen in verschiedenen Bundesländern mit jeweils eigenen Mechanismen von Unterdrückung und Rassentrennung entkommt die Hauptfigur immer nur haarscharf und entgegen aller Wahrscheinlichkeiten. Whitehead verweist in einer Widmung auf den Einfluss von David Bowie auf seinen Roman. Und tatsächlich: der schier übermenschliche Überlebenswille der jungen Frau zeugt von einem Selbst jenseits aller politischen Zuschreibungen, einer Neuerfindung der eigenen Identität, die über jede Angst hinaus wächst.