Entdeckungen in Langsamkeit
Bücher im Januar
Nachdem 2023 nicht nur auf den gelesenen Buchseiten rasant endete (Krimi für die Ewigkeit: 5 Winter von James Krestrel), stand der Anfang des neuen Jahres im Zeichen der Entschleunigung. Kein Neujahrsvorsatz, eher eine zufällig eingeschlagene Richtung, in der sich die Schritte von ganz allein verlangsamten.
Das Ende der Rastlosigkeit
Da passte ganz gut das gerade erst ausgelesene Buch Das Ende der Rastlosigkeit des amerikanischen Pastors John Mark Comer (SCM Brockhaus): Hektik, Rastlosigkeit, Erschöpfung – etwas läuft schief in der modernen Welt, so die nicht gerade originelle Beobachtung, die Comer aber voller Eifer noch einmal serviert. Der Grund: er kennt die Heilung. Die Heilung findest du, lieber Leser, indem du bei Jesus in die Schule gehst, schreibt er. Dessen Lehre sei ein leichtes, sanftes Joch, das aber von allen Übeln erlösen könne. „Worum es eigentlich hier geht, ist ein Leben mit Regeln“, so Comer: Regeln, die Raum schaffen für „emotionale Gesundheit und geistliches Leben“. In der zweiten Hälfte des Buches erzählt Comer, Jahrgang 1980, wie ihm eine Handvoll geistliche Übungen halfen, von der totalen Hektik, dem nahen Burnout, der Macht digitaler Geräte und sozialer Netzwerke und der Bereitschaft zur permanenenten Verfügbarkeit loszukommen. Da geht es um regelmäßig praktizierte Stille, um Einkehrtage und Einsamkeit; da wird Minimalismus gepredigt und Entschleunigung empohlen. Die vielleicht spannendsten Ausführungen des Buches gibt es zum Sabbat: dem siebenten Tag, an dem Gott alles ruhen ließ. Und so sollst auch du, sagt Comer und preist die Vorzüge des Sonntags in Familie und Gottesdienst. Er führe nun „ein ruhiges Leben“, und das sei, „in einer Welt voller Lärm … eine Rebellion“.
So kurz ich das Buch hier referiert habe, wird deutlich: so ganz Freunde geworden sind Comer und ich nicht. In der Sache finde ich das alles gut und richtig, allerdings auch nicht wirklich neu. Aber ein Christentum, das die Polemik gegen Andere braucht, von fernöstlichen Meditationspraktiken über Buddhisten bis hin zu Joggern (!), das löst bei mir freundlich gesagt Abwehrreflexe aus. In dem Buch steckt mir zu viel Fundamentalopposition, ja: zu viel Fundamentalismus. Und nein: so sehr das Christentum z.T. verschüttetete Impulse gegen die (innere) Rastlosigkeit bereit hält, ist es nicht die Alleinantwort gegen alle Übel der Welt, die der Autor dann gar bei Netflix und in den sozialen Netzwerken verortet. Derlei Antworten sind mir dann doch zu einfach. Aber danke für die Sache mit dem Sabbat!
Mystische Fauna
“In Langsamkeit entsteht ein Sehen in Verbindungen.“
Ganz und gar nicht einfach ist die Lektüre des neuen schmalen Bändchens von Marica Bodrožić. In Mystische Fauna (Matthes & Seitz) nimmt sie die Leser*innen mit auf eine mäandernde Reise durch verschiedene Lebenssphären. Wenn es in diesem sprachlich extrem verdichteten Memoir eine Handlung gibt, dann setzt sie auf La Gomera ein, wo die Autorin eine Zeitlang mit einem fremden Hund lebt. Der Hund, der da plötzlich auf der Schwelle des Hauses auftaucht, in dem sie lebt, führt sie auf Verbindungslinien in ihr früheres Leben: in die Kindheit. Dort wird die Autorin mit Gewalterlebnissen konfrontiert, die sie längst verdrängt hatte. Nicht nur Hunde, auch Kinder werden geschlagen und misshandelt, im Falle der Autorin von der eigenen Mutter; auch ein Esel wird ermordet, und das kleine Mädchen, von dem Bodrožić erzählt, ist daran nicht unschuldig – so wie sich dieses Mädchen auch lange Zeit ganz selbstverständlich an Schlachtungen beteiligt. Räume und Zeiten sind in diesem assoziativen, autobiographischen Schreiben aufs Engste und vielfach verknüpft, ebenso wie Menschen und Tiere:
“Für mich gibt es keine unpersönliche Welt der Tiere und Dinge, die von der Menschenwelt getrennt sind. Eine Kosmologie der Verknüpfungen bringt sich von allein ins Spiel, sie ist die größere Erzählung, vielschichtig, multidimensional, Zeiten überschreitend und selbstermächtigend zeigt sie sich und pocht darauf, entschlüsselt zu werden.“
„Alles ist miteinander verbunden“, schreibt Bodrožić, und dem versucht sie in ihrem Schreiben gerecht zu werden: poetisch, geraezu meditativ streift sie durch ihr Leben, kontempliert über Begegnungen, ist „Betrachtende und Betrachtung“ zugleich. Einem dichten Wald gleich entsteht auf den gerademal 150 Seiten eine Liebeserklärung an das beziehungsreiche Leben, an eine als „magisch“ erfahrene Umwelt, an Literatur und Sprache; doch sind diese Zeilen nie ganz frei von Trauer und Verzweiflung angesichts all des Schmerzes und der Gewalt, die von uns Menschen ausgeht.
“Die Gewalt erzeugt auf allen Ebenen des Seins Risse im Lebensgewebe, sie zerstört das Vertrauen und erschüttert bis auf den Grund des Seins das Selbstverständliche.“
Wie gut, dass es solche Stimmen gibt, die von dieser Gewalt erzählen und dennoch von Liebe zeugen können.
Bis wir Wald werden
Auch der Debütroman von Birgit Mattausch, der ich schon seit Jahren immer wieder tolle Impulse als Frau Auge verdanke, kommt schmal und leicht daher. Doch Mattausch schreibt in Bis wir Wald werden (Klett-Cotta) auf eine so dichte, poetische Weise über eine Hausgemeinschaft russischer Spätaussiedler, dass ich in diesem Buch mich hätte häuslich einrichten wollen: so liebevoll, so leise, so zart wird von Babulya, Vitali, Nanush und all den anderen von Russland aus in einem Hochhaus Gestrandeten erzählt. Ganz ehrlich: ich glaube, ich habe viel zu schnell gelesen und muss bald wiederkommen in dieses Haus voller Geschichten. Wie dieser eine Satz hier steckt das ganze Buch voller Bilder, Sprachspiele und Geschichten - man vermag es kaum bei einer Lektüre zu fassen:
“Ich stelle das Handy auf Flugmodus, halte mich daran fest und fliege davon.“
(Und ganz nebenbei ist das ein perfekter Schlusssatz für diesen Beitrag. In diesem Sinne: Ich bin dann mal weg.)