Simenon lesen (3): Die Pitards

Bei einem Vielschreiber wie Georges Simenon bleibt es nicht aus, dass manchmal die Konstruktion durch die Handlung hindurchschimmert. Oft sind es Schauplätze oder bestimmte Figurenkonstellationen, die den klar erkennbaren Rahmen für die jeweilige Geschichte darstellen, nicht selten auch zeigt sich eine Erzählung von einer bestimmten Atmosphäre oder einem Motiv geradezu durchtränkt. Angesichts seiner immensen und vielfältigen Roman-Produktion ist es erstaunlich, mit welcher Detailkenntnis Simenon in das jeweilige Setting eintaucht – nicht umsonst war er, wie kaum ein anderer, berühmt dafür, konsequent durch die Augen, mit der Sprache und aus der Welt seiner Figuren zu erzählen.

Wenn er ausgiebig jeden Winkel der erzählten Welt erkundet, wähnt der Autor sich dabei nie klüger als seine Figuren; er teilt ihre Vorbehalte, Sympathien und Ängste; mag er auch um die Ecken wissen, in die nur selten ein Licht fällt, und um die blinden Flecken im Blickfeld seiner Protagonisten – konsequent hütet sich die scheinbar so gelassene Erzählerstimme in den Romanen Simenons vor der Allwissenheit.

Les Pitard könnte im Simenonschen Gesamtwerk fast als Frühwerk durchgehen; der 1935 erschienene Roman baut auf recht durchschaubaren Gegensätzen auf, die Simenon gründlich durchexerziert, bevor er sie im grandiosen Finale bis hin zur Katastrophe entfesselt. Da ist der Gegensatz zwischen dem Leben auf dem Schiff und dem in der Stadt; da stehen bürgerliche Dünnhäutigkeit gegen proletarisches Dickhäutertum; all das sucht sich ein Ventil in der Konfrontation von Mann und Frau, genauer: in der Irritation, die einer Frau für die Männerwelt an Bord eines Schiffes darstellt.

Das Schiff heißt "Donnerwetter" – und das ist nur eine der Fährten, die der gewitzte Autor legt, um mit Motiven und Handlungsmustern der Seefahrerromantik (und ihrer Literatur) zu spielen. Da ist die mysteriöse Botschaft gleich nach Anbruch der Jungfernfahrt des Schiffes, da ist die äußerst ausgebildete Sensibilität für die kleinsten Vorzeichen von Entfremdung und Anspannung an Bord. Und da ist nicht zuletzt die Natur selbst, die in diesem Buch irgendwann die Macht übernimmt.

Es war eine lächerliche Idee, an Bord leben zu wollen,

begreift Mathilde irgendwann, die Frau von Kapitän Lanec. Es ist seine erste Fahrt mit dem eigenen Schiff – nur dass dieses Schiff zu großen Teilen seiner Schwiegermutter gehört. Die Idee, gemeinsam an Bord des Schiffes leben zu wollen, mag romantisch anmuten. Dahinter verbergen sich jedoch ziemlich handfeste Vorstellungen vom bürgerlichen Familienleben, die von der Realität an Bord erwartungsgemäß ad absurdum geführt werden. Die Lage ist längst eskaliert, als das Schiff im Hafen von Hamburg vor Anker geht. Noch weiß keiner, dass die "Donnerwetter" bald Richtung Island in See stechen wird, hinaus aufs offene, tosende, endlos graue Meer ...

Vor allem in der 2. Hälfte der Pitards ist Simenon so übermütig und maßlos, wie es der Gegenstand verlangt; die unberechenbare, unbezähmbare Natur wird ihm zum Spiegel der inneren Leidenschaften; in dem Maß, in den sich die Verhältnisse an Bord zuspitzen, verlieren die Seeleute die Kontrolle über die Situation. Das Ende der Tragödie ist absehbar – und dennoch weiß man kaum zu benennen, wieso es eigentlich so kam, wie es (scheinbar) kommen musste.

Von "hilflosen Helden" spricht denn auch Elke Schmitter im Nachwort zu der nun bei Hoffmann & Campe erschienenen Neuübersetzung von Kristian Wachinger. Was den Roman bei aller Durchschaubarkeit der Konstruktion so abgründig, so fesselnd macht, ist das Geheimnis, das inmitten der turbulenten Handlung still und unheimlich gewahrt bleibt:

Simenon, als Meister der Skizze, klärt nichts restlos auf. Er überlässt es seinen Lesern, in dem Geschehen den Zufall von der Notwendigkeit zu scheiden.

"Die Pitards" ist im Rahmen der Georges-Simenon-Neuedition bei Hoffmann & Campe erschienen.