Nachruf auf mich selbst

Wie wollen wir leben?

Die Situation

"Meinst du, dass das Buch aufbauend ist?", fragt mich meine Frau, als ich ihr den Beginn von Harald Welzers Nachruf auf mich selbst vorlese: Was, wenn unsere Kultur nicht nur seit Jahrhunderten in eine falsche Richtung unterwegs ist (weswegen wir heute vor einigen schier unlöslich wirkenden Problemen stehenden) – sondern wenn sich an der grundlegenden Richtung auch angesichts der drohenden Katastrophen nicht wirklich etwas ändert?

Schon 2013 hatte Welzer Selbst denken die Wachstumsidiotie unserer Kultur schärfstens kritisiert. Wenn jetzt die Antwort auf die drohende Klimakatastrophe wieder nicht anders denkbar ist als in Wachstumskategorien, liegt die Frage nahe, ob das tatsächlich eine adäquate Reaktion auf den Ernst der Lage sein kann. Welzers Antwort ist klar: Nein. Für sein Buch über die Kultur des Aufhörens geht er davon aus, dass es uns nicht gelingen dürfte, die Klimakatastrophe abzuwenden. Deshalb meint er:

" Eigentlich müssten moderne Gesellschaften Nachrufe auf sich selbst schreiben, in denen sie entwerfen, wie sie sich entwickelt haben werden wollen."

Gehen wir einfach davon aus, dass wir den Kampf verlieren werden. Klingt trostlos? Ist es - dank Welzers ironischem, aber immer persönlich engagierten Schreibstil – nicht. Denn statt über ferne Zukunftsszenarien zu diskutieren, lenkt dieser Ansatz den Blick auf das, was heute denkbar, machbar, sinnvoll ist. Konkrete Schritte statt abstrakter Ziele. An die Stelle des zunehmend hohler werden technischen Innovationsdranges tritt in dieser Perspektive die Frage danach, was Fortschritt wirklich für uns bedeutet. Oder schlicht: Wie wollen wir gelebt haben?

" Solange das expansive Kulturmodell ungebrochen vorherrscht, solange kann und wird es keinen Pfadwechsel zu nachhaltigen und klimaschützenden Wirtschafts- und Lebensformen geben."

Eine Kultur, die, so Welzer, keine Stragie des Aufhörens hat, keinen positiven Begriff der Endlichkeit, steht da aber natürlich vor einem Problem. Aufhören, Einknicken, gar Scheitern verträgt sich so gar nicht mit unserem von der Aufklärung geprägten Drang nach vorn. Auch den Tod haben wir schließlich erfolgreich aus unserem Leben verbannt.

Moment mal, sagt da Welzer: Dieser Versuch ist ja letzten Endes zum Scheitern verurteilt. Die Natur ist es, die dem Größenwahn des Menschen eine letzte Grenze setzt.

Auf der Suche nach Lösungen

Harald Welzer: Nachruf auf mich selbst. Die Kultur des Aufhörens. Fischer 2021

Der eigene Herzinfarkt mit Anfang 60 bildet die Achse des Buches, um die herum die Gesellschaftsanalyse/Kulturkritik entwickelt wird. Denn Endlichkeit ist alles andere als eine Idee – es ist eine persönliche Erfahrung, die alles verändert. Und dieser Kurzschluss zwischen dem eigenen Erleben und dem Nachdenken über Gesellschaft ist der Clou dieses Buches, zu dem man dem Autor Harald Welzer gern gratulieren möchte. Ist ja nur leider kein Kunstgriff, sondern ganz real.

"Könnten wir nicht, wenn wir jetzt von meinem Fall in die Gesellschaft zurückblenden, viel besser und womöglich auch schöner auf unsere ökologischen Herausforderungen reagieren, wenn wir sie als Endlichkeitsphänomene akzeptieren und endlich Konzepte des Aufhörens entwickeln würden, als immer nur wie in einer immerwährenden Beschwörung der Grenzenlosigkeit weiterzumachen und zu optimieren, was man in Wahrheit aufgeben müsste?"

Harald Welzer wendet den Blick: von außen nach innen, von der Zukunft in die Gegenwart, vom Fortschreiten, zum Innehalten, von der Katastrophe hin zu utopischem Denken. Und er geht mit dieser Frage – wie geht das mit dem Aufhören? – zu Expert*innen und Freund*innen, die er für sein Buch befragt und portraitiert: Reinhold Messner (überraschend inspirierend), Jan Vermeer, Johannes Heimrath, die Hebamme und Regisseurin Katja Baumgarten, den todkranken Komponisten Thomas Kessler, die Verlegerin und Sterbebegleiterin Christiane zu Salm, den Galeristen Peter Sillem und einige andere.

Der zweite Teil des Buches steckt so voller Erfahrungen und Ideen, wie das ist mit dem Aufhören, Neu-Anfangen, Loslassen, Ernstmachen. Als letztes Jahr meine Sehnsucht nach beruflicher Veränderung ins Unermessliche stieg, fand ich einen Artikel, der mir Mut zusprach: Quäl dich nicht, kündige endlich. Es ging in dieser Situation genau um die Fragen dieses Buches: Wie lerne ich aufzuhören – was auch eine Voraussetzung dafür ist, neu anzufangen? Und wie geht das mit dem Anfangen?

"Diese zentrale Frage: Wer will ich gewesen, die ist monumental. Sie ist existenziell."

So Christiane zu Salm aus ihrer Erfahrung mit Sterbenden. Es folgen noch luxuriöse 60 Seiten, die Harald Welzer mit seinem ganz persönlichen Nachruf auf mein zu lebendes Leben füllt. Wie möchte ich gelebt haben? Was möchte ich bewirken? Was ist mir wichtig?

Aufhören!

Wer will ich gewesen sein? Ein Buch, das intelligent, witzig, vor allem ehrlich über diese Frage meditiert – sowohl auf der individuellen als auch auf der gesellschaftlichen Ebene: eine Fundgrube von Fragen nach einem gelingenden Leben. Eine der Voraussetzungen dafür ist, zu wissen, dass das Leben irgendwann aufhört. Ich finde das tatsächlich aufbauend, weil es den Fokus auf mögliches Handeln legt: im Leben vor dem Tod. Machen wir uns nichts vor.

"Ein Leben, das Konjunktive zu vermeiden lernt: Das scheint mir eine gute Voraussaetzung für gelingendes Aufhören zu sein."