Lichtungen

Leicht macht es einem Iris Wolff mit ihrem neuen Roman Lichtungen nicht. Im Grunde erzählt die Autorin von einem ganz ähnlichen Weg wie Marica Bodrožić in ihrem hier zuletzt besprochenen Roman Das Herzflorett. In diesem Fall folgen wir dem Weg des jungen Lev aus dem kommunistischen Rumänien in die Mitte Europas. Wobei das Wort "folgen" aber schon auf die falsche Fährte führt. Denn Wolff erzählt ihren Entwicklungsroman keineswegs chronologisch.

„Ich habe Lev im Bett liegend kennengelernt, als kleinen Jungen, der nach einem Unfall seine Beine nicht mehr bewegen kann. In dieser reduzierten Welt, bestehend aus Bett, Haus und Familie, aus Geschichten und Geräuschen war alles enthalten“,

beschreibt die Autorin. Den Jungen im Bett lernen wir indes erst ganz am Ende des Buches kennen – Wolff erzählt rückwärts. Schließlich begegnen wir einander so auch im echten Leben, meint sie:

„Man lernt jemanden kennen, und wenn sich die Begegnung verstetigt, erfährt man nach und nach, was denjenigen zu dem Menschen gemacht hat, der er heute ist.“

So begegnen wir Lev, als er gerade in Zürich ankommt und die Künstlerin Kato besucht, mit der er wenig später auf eine Reise durch Europa aufbrechen wird. Was sie verbindet? Ihre Geschichte und ihre Herkunft, wie sich zeigen wird. Wolff erzählt uns aus der vertrauten Gegenwart, aus der Mitte Europas, hinaus in eine fremde – und fremd bleibende – Welt hinter dem Eisernen Vorhang. Erst nach und nach erschließt sich, wie die Vergangenheit die Leben der handelnden Personen prägt. Auf dem Weg in die Vergangenheit beginnen wir zu erahnen, was Lev zu dem gemacht hat, der er ist.

Iris Wolff: Lichtungen. Klett-Cotta 2024

Erahnen ist dabei der passende Ausdruck: denn Iris Wolff hat Respekt vor den Geheimnissen ihrer Figuren, die sie nie ganz lüftet. Sie öffnet kleine Inseln der Erinnerung vor den Leser*innen, Erinnerungen vor allem an die Jugend und die Kindheit in Rumänien mit siebenbürgischer Mutter und österreichischen Vorfahren. An ein Land, in dem immer mehr Menschen das Weite suchen. An Enge und Armut. Aber eben auch immer wieder an Momente der Freiheit und des Glücks, an Sehnsucht, Freundschaft, Liebe.

„Erinnerungen waren über die Zeit verstreut wie Lichtungen. Man begegnete ihnen nur zufällig und wusste nie, was man darin fand.“

Mit Lev stolpern wir also zurück durch die Zeit und betreten "Lichtungen", auf denen sich kurz der Raum der Erinnerung öffnet. Wie das so ist mit Erinnerungen, bleibt manches im Vagen, und es braucht eine Weile, sich in den jeweiligen Lebensstationen zurechtzufinden. Wie bei den eigenen Erinnerungen begegnet uns auf diesen Buchseiten aber auch die ganze Fülle der Zeit: sinnlich, intensiv und von einem ganz eigenen Zauber. Am Ende ist man versucht, den Roman noch einmal in Gegenrichtung, vorwärts, zu lesen.