Die Rebellion der Liebenden
"Was wir heute brauchen, ist eine Rebellion der Liebenden",
sagt Marica Bodrožić. Heute: das sind die "unsicheren Zeiten", von den im Untertitel die Rede ist. Der Angriffskrieg in der Ukraine, die Eskalation im Nahen Osten, der Rechtsruck, die Klimakrise... "Es gibt keine Trennung mehr", so die in Dalmatien geborene, in Berlin und Mecklenburg lebende Autorin: "was in den Krisenherden geschieht, geschieht auch hier."
"Was einem einzelnen Menschen geschieht, geschieht uns allen, ob wir das wahrhaben wollen oder nicht."
Bodrožić hat im Herbst 2022, Monate nach Beginn des Kriegs in der Ukraine, sechs Poetikvorlesungen in Köln und in Dresden gehalten, die in diesem Frühjahr als Sammlung von eng miteinander verknüpften Essays unter dem Titel Die Rebellion der Liebenden erschienen sind. Christian Lehnert macht Mitgefühl, Liebe und Einfachheit als zentrale Elemente der hier schreibend erforschten Poetik aus. Die Liebenden, das sind für Bodrožić die, die ohne Gegnerschaft auskommen, nicht in Dualitäten hängen bleiben, offen sind für ein Dazwischen, für die eigenen und die Verletzungen anderer. Durchlässigkeit, Verletzlichkeit, Ungezähmtheit oder Verwandlungsfähigkeit: das sind einige der Zugänge, über die Bodrožić erforscht, was es heißt, so zu l(i)eben. Ihre Essays sind dabei keine ganz einfache Lektüre: kreisend, verdichtet, suchend. Lohnend aber auf jeden Fall, da dieses mystische Schreiben auf beeindruckende Weise diesseitig, sinnlich und der Welt zugewandt ist.
Eine Schule des Fühlens, der Sprache und des Lesens
Wie auch in früheren Büchern nimmt Bodrožić die Leser*innen mit in ihre eigene Geschichte und verknüpft diese mit Stimmen anderer. Mit Simone Weil liest sie in der Ilias, verfolgt die Lebensgeschichten von Jacques Lusseyran oder Fritz Bauer, denkt mit Kurt Masur über die Macht der Kunst und mit Martin Luther King über die Stärke des Einzelnen nach. Sie geht mit den Frauen im Iran selbstbewusst und ohne Kopftuch durch die Straßen und erhebt sich mit Ilya Danishevsky als Vertreter der russischen LGBTQ-Community gegen den Terror des Diktators. Von der Verwandlung unseres Denkens in unsicheren Zeiten, so der Untertitel des Buches, lässt sich nicht unpolitisch schreiben – was bei Bodrožić jedoch nicht heißt, auf die Sinnlichkeit, auf die Sinne zu verzichten. Im Gegenteil: ihre hier versammelten Essays haben die Einübung eines genaues Sehens, von Menschlichkeit und Sprache zum Ziel.
"Und du? Hast du heute von der Stille gekostet, die dich mit Panthern, Vögeln und Kinderhänden verbindet? Hast du heute schon gelächelt? Hast du bemerkt, dass der Zusammenhang dich nie allein lässt?"
Verletzlichkeit, Demut und neues Denken
Schon immer war Bodrožić' Schreiben von Verbindungen geprägt: hier werden sie einmal mehr Thema. Schonungslos offen schreibt sie von ihren Verletzungen, denn in diesen Verletzungen öffnet sich ein Raum der Verbundenheit mit anderen Geschöpfen. Wer sich seiner eigenen Verletzungen bewusst wird, seiner eigenen Verletzlichkeit, hat die Möglichkeit, auf das Verletzen anderer zu verzichten: So werden wir Lernende, die offen werden für ein neues Denken, eine neue Gemeinschaft. Die Verletzlichkeit, so Bodrožić, "lehrt mich, ohne Überzeugungen, aber mit immer wieder neu errungener Offenheit zu leben."
"Dem Rätsel Raum geben, dem Mitgefühl, der Sonne, der Weite und der Begegnung. Der Mitarbeit der Jahreszeiten. Der Bäume. Der anderen Blicke. Der Mitarbeit der Tiere. Allem, was mich anschaut und in Aufmerksamkeit an mir wirksam wird, Vertrauen schenken."
In dieser Offenheit und Ungeschütztheit komme ich zu mir, jenseits der Atemlosigkeit der krisengeschüttelten Welt. Es öffnet sich ein Raum der "Gnade", in dem ich neu sehen und fühlen lerne, ein Möglichkeitsraum der Fragen nach einem anderen Sein. Beeindruckend, wie Bodrožić über den vom Christentum stark besetzten Begriff der Gnade schreibt und dabei praktisch ohne eine Gottesvorstellung auskommt. Dabei lässt sich auch für religiös eher Unmusikalische eine Vorstellung von einer neuen "Zugehörigkeit" finden – vielleicht eine Antwort auf Simone Weils Diktum von der Entwurzelung als "der gefährlichsten Krankheit der menschlichen Gesellschaften"? Wohlgemerkt, keine einfache Antwort, denn Bodrožić weiß um die Brüche und Verwerfungen in jedem individuellen Leben. Doch genau hier, in der Krise, sieht sie auch eine Chance, der kollektiven Verunsicherung mit neuer Kraft zu begegnen.
"Es gibt kein Leben, das nicht in jedem Augenblick seines Hierseins in die Verwandlung hineingerufen wird."
Was es dazu braucht? Den Mut, auf den schnellen Erfolg, den sicheren Sieg, das Recht behalten zu verzichten; sich von der Schönheit und der Verletzlichkeit in die Stille rufen zu lassen; innezuhalten. Und dann: die eigene Kraft, die "Ungezähmtheit" und die Möglichkeit der Verwandlung zu entdecken.
"Wir können so lange im Außen gehen, wie wir wollen, in Wirklichkeit gehen wir alle nur im Innen. Und nur dort können wir uns treffen, nur dort eine alles verändernde Unterhaltung führen und in dier Verwandlung als einem Raum des Gemeinsamen leben."