Schweigen
Denke ich an Japan, fällt mir, natürlich, zunächst der Zen-Buddhismus ein. Christenverfolgung? Das war mir neu. Der japanische Schriftsteller Shūsaku Endō hat dieses grausame Kapitel der japanischen Geschichte zum Anlass für ein sehr persönliches Buch über den christlichen Glauben genommen - ein spannender geschichtlicher Roman, ein ungeschminkter Blick in menschliche Abgründe und eine leise Meditation über Kernfragen des (christlichen) Glaubens.
Nur knapp hundert Jahre nachdem portugiesische Missionare in Japan landeten - und bis zu 150.000 Christen im Land lebten - begann eine beispiellose Verfolgung der Gläubigen, die durch grausamste Foltermethoden zum Widerruf gezwungen oder getötet wurden. Warum?
Die Antwort lautet, dass diese Leute, die man arbeiten lässt wie Vieh und die wie Vieh sterben müssen, in unserer Lehre einen Weg zur Befreiung von ihren Fesseln erkennen. Die buddhistischen Mönche aber waren Verbündete derer, die sie wir Rinder ausnutzten. Lange Zeit dachten diese armen Bauern, dass zu leben nur Verzicht bedeute.
Als bekannt wird, dass der verdienstvolle und hoch angesehene Pater Ferreira vom Glauben abgeschworen hat, macht sich eine Gruppe junger portugiesischer Priester um Sebastiaõ Rodriguez auf den mühevollen Weg ins Reich der aufgehenden Sonne, das sie nach einem Jahr Reisezeit in einer dunklen Nacht betreten. Unterstützt von der sehr zweifelhaften Gestalt Kichijirõ und einer geheimen Organisation von Christen verstecken sie sich in einer Berghütte. Kichijirõ wird Rodriguez sein gesamtes Martyrium über verfolgen: als Trunkenbold und Schwächling, der dem Christentum bei der erstbesten Gelegenheit abschwört - während andere bei einer grausamen Wasserkreuzigung sterben - um im nächsten Augenblick um Beichte und Vergebung zu bitten. Kichijirõ ist es, der Rodriguez an die Samuarai verrät.
In der sich endlos hinziehenden Haft kreist Rodriguez um die immer gleichen Fragen: Warum schweigt Gott angesichts all des Leidens, das die Gläubigen auf sich nehmen? Wie kann er es zulassen, dass Judas Jesus verrät so wie Kichijirõ ihn selbst? Was ist daran Liebe, wenn Menschen sterben, weil andere - die portugiesischen Missionare - nicht von ihrem Glauben lassen? Sind sie es nicht selbst, die die Gewalt über die Gläubigen bringen, weil sie an ihrem Glauben festhalten? Wie sieht sie aus, die Gerechtigkeit? Was bedeutet Vergebung?
Bis zum Schluss erscheint Rodriguez immer wieder das Antlitz Jesu', das er aufs Neue auf den Sinn des Leiden und die Möglichkeit von Liebe hin befragt.
Lange, lange Zeit, unzählige Tage, habe ich mir dein Antlitz vorgestellt. Besonders oft, seitdem ich nach Japan gekommen bin. Als ich mich in den Bergen von Tomogi versteckte, als ich das Meer im Boot überquerte, in den Nächten im Gefängnis. An dein angebetetes Antlitz dachte ich bei jedem Gebet, dein segnendes Antlitz rief ich mir in Erinnerung, wenn ich einsam war. Dein Antlitz, als du mit dem Kreuz beladen warst, belebte mich am Tag der Verhaftung. Dein Antlitz, tief eingebrannt in meine Seele, lebt in meinem Herzen als das Schönste, das Erhabenste auf der Welt.
Indes: Gott schweigt. "Christus hätte für die Menschen ganz sicher abgeschworen," erklärt Pater Ferreira, Rodriguez' ehemaliger Lehrer, der mit japanischem Namen und japanischer Frau in einem buddhistischen Kloster lebt. Ist es möglicherweise die wahre Konsequenz des Glaubens, ihn loszulassen - und das Antlitz Jesu' mit den Füßen zu treten? Wird Jesus vergeben und in der größten Schwäche bei ihm sein?
Petrus aber antwortete und sprach zu ihm: Wenn sich auch alle an dir ärgerten, so will ich doch mich nimmermehr ärgern. Jesus sprach zu ihm: Wahrlich ich sage dir: In dieser Nacht, ehe der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen. Petrus sprach zu ihm: Und wenn ich mit dir sterben müßte, so will ich dich nicht verleugnen. Desgleichen sagten auch alle Jünger. (Matthäus 26,33)
Shūsaku Endō: Schweigen. Aus dem Japanischen von Ruth Linhart. Mit einem Vorwort von Martin Scorsese und einem Nachwort von William Johnson. Wien 2015