Über Freiheit
Als Navid Kermani in den Jahren 2016 und 2017 Entlang den Gräben durch Osteuropa reiste, hatte er unter anderem Timothy Snyders Buch Bloodlands im Gepäck, in dem sich der amerikanische Historiker kenntnisreich mit der deutschen wie sowjetischen Vernichtungspolitik in Osteuropa beschäftigt: dem Gebiet, wo heute die Ukraine um ihr Überleben kämpft. Genau dort, im Nachtzug von Kyjiw Richtung Westen, entstand im September 2023 das Vorwort zu seinem neuen Buch. Nachdem Timothy Snyder u.a. die große politische Streitschrift Über Tyrannei veröffentlicht hat, beschäftigt er sich nun mit der Frage, wie ein besseres Amerika aussehen könnte. Er tut das, so viel sei vorweggeschickt, im Jahr 2023, als sich eine mögliche erneute Kandidatur Donald Trumps abzeichnet, eine erneute Präsidentschaft aber noch in weiter Ferne liegt.
Das macht die Lektüre von Über Freiheit jetzt, im Jahr 2025, zu einer schmerzhaften Angelegenheit.

Wenn Freiheit darin besteht, Entscheidungen für ein besseres Zusammenleben zu treffen und Chancen für eine lebenswertere Zukunft – für alle – zu nutzen, dann sind in den Monaten seit Erscheinen des Buches einige Dinge geschehen, vor denen Timothy Snyder warnt, um die er sich sorgt. Über Freiheit ist keine theoretische Abhandlung sondern ein sehr persönliches Buch, das die Spuren seiner Entstehung nicht verschweigt, kein systematischer Überblick, sondern eine unabgeschlossen bleibende Auseinandersetzung mit Vergangenheit und Zukunft seines Landes aus dem Blickwinkel der Gegenwart. In fünf großen Kapiteln versammelt Snyder kurze Vignetten, zum Teil autobiographisch geprägt, zum Teil in Auseinandersetzung mit Philosophinnen und Denkerinnen wie Frantz Fanon, Václav Havel, Leszek Kołakowski, Edith Stein oder Simone Weil.
“Wir ermöglichen Freiheit nicht, indem wir es ablehnen, regiert zu werden, sondern indem wir die Freiheit als Leitfaden für eine gute Regierung bejahen.“
Als roter Faden zieht sich die Abrechnung mit der liberalen Idee der „negativen Freiheit“ durch das Buch. Freiheit als Beseitigung von Hindernissen, von Einschränkungen bedeutet in der Konsequenz weniger Staat, weniger Regeln – und mehr Ungleichheit, mehr Unfreiheit. Dem hält Snyder entgegen: „Freiheit rechtfertigt Regierung.“ Und so zeigt sein Weg durch die fünf Formen der Freiheit – Souveränität, Unberechenbarkeit, Mobilität, Faktizität und Solidarität – in welchem Maß Freiheit nach Gestaltung verlangt, nach Bedingungen, die geschaffen werden müssen, damit Menschen frei sein können. Nicht frei vom Staat - sondern frei für die Zukunft, für die Mitmenschen, frei zu sich selbst. „Der Libertarismus ist mit jeder Form von Freiheit unvereinbar“, so Snyder.
Dem entgegen steht das Bild des heutigen Russlands: eine Oligarchie, ein faschistisches Imperium, das auf den Trümmern der Befreiung von allen Schranken und Grenzen erwachsen ist. Oder das Drohbild eines Amerikas, das nach dem Ende des Kalten Krieges den gleichen Weg zu gehen droht: „Donald Trump, Putins gefügiger Schützling, ist ein Held der negativen Freiheit“, warnt Snyder und beschreibt prophetisch die Zeitschleifen der amerikanischen Politik: Während der Kapitalismus zu Zeiten des Kalten Krieges als das bessere System dastehen wollte und deshalb soziale Mobilität stark förderte (mit Konsequenzen für das Bildungssystem, die Gesundheit, die Lebensqualität, die Lebenswartung), begann nach Ende des Kommunismus eine „Politik der Unausweichlichkeit“: statt Immer bessere Möglichkeiten für alle zu schaffen, wurde staatliche Regulierung zurückgebaut.
“Der Glaube an die negative Freiheit brachte eine erschütternde Ungleichheit mit sich, die die soziale Mobilität einfriert.“
Es folgte eine „Politik der Ewigkeit“: ein permanenter Rückbezug auf bessere Zeiten, ein Ausblenden der Zukunft als Möglichkeitsraum und Installieren unveränderlicher Grundsätze. Diese konservative Politik führte in Russland zu Putin – und in Amerika zu Trump 2, möchte man ergänzen. „Sowohl der Politik der Unausweichlichkeit als auch der Politik der Ewigkeit fehlt“, so Snyder, „der Kontakt zu den grundlegendsten Elementen der Wirklichkeit.“ Genau deshalb führt sie in letzter Konsequenz zu einer „Politik der Katastrophe“: zunehmender Ungleichheit, sozialen und internationalen Spannungen und einer Handlungsunfähigkeit in dem Moment, wo für den Menschen die Zeit abläuft, um der größten Bedrohung in seiner Geschichte zu begegnen.
"Die Politik der Unausweichlichkeit propagiert eine einzige positive Zukunft; die Politik der Ewigkeit schafft die Zukunft ab; die Politik der Katastrophe lässt eine negative Zukunft immer näher rücken.“
Es ist nicht so, dass in diesem leidenschaftlichen Plädoyer für Freiheit keine Möglichkeiten aufgezeigt würden, eine freie Gesellschaft und eine bessere, lebenswerte Zukunft zu gestalten; das reicht vom bewussten Umgang mit der eigenen Leiblichkeit, den eigenen Grenzen und Möglichkeiten, über die Förderung des Lokaljournalismus und die Regulierung sozialer Medien bis hin zu Fragen des Gesundheitssystems und der Energieversorgung; allein bräuchte es dafür einen zukunftsoffenen Gestaltungswillen in der Politik, den man angesichts konservativer Beharrungstendenzen und stärker werdender autokratischer Kräfte im Jahr 2025 auch in Deutschland vergeblich sucht. Über Freiheit liest sich deshalb vor allem als eine verzweifelte Aufforderung zum Widerstand.