Widerstand und Ergebung

Als vor einigen Jahren durch die Lektüre von ganz verschiedenen Autoren wie Christian Nürnberger, Christoph Quarch oder Christian Lehnert mein Interesse am Christentum geweckt worden war, empfahl mir eine Freundin auf die Frage nach zu lesenden theologischen Büchern dieses eine: Dietrich Bonhoeffers Briefe aus der Haft, die von dessen Freund Eberhard Bethge nach dem Krieg unter dem Titel Widerstand und Ergebung herausgegeben worden waren.

Heute werden merkwürdige Diskussionen um die identitätsstiftende Funktion des Christentums geführt, und man muss nicht Bonhoeffer lesen, um zu wissen, dass das Christentum zu dieser Form der Selbstvergewisserung und Abgrenzung nur durch Missbrauch taugt. Die eindringlichen Briefe und Notizen, die Bonhoeffer während seiner Haft in Berlin Tegel von 1943 bis 1945 schrieb, sind aber sicherlich nicht die schlechteste Lektüre, um sich vor Augen zu halten, was christlicher Glauben eigentlich und jederzeit ist: der Ruf in die Verantwortung, in das Diesseits, die Absage an Ideologien, politische Projekte und, ja, religiöse Systeme. Christlicher Glaube: keine sichere Festung, sondern ein Zug ins Offene, in die Zeitgenossenschaft, in die Verbindlichkeit.

Schon zum Jahreswechsel 1943, vor Beginn der Haft, notiert Bonhoeffer:

Ich glaube, daß Gott kein zeitloses Fatum ist, sondern daß er auf aufrichtige Gebete und verantwortliche Taten wartet und antwortet.

In den zwei Jahren, die Dietrich Bonhoeffer in Tegel und später in der Gustav-Adolf-Straße einsitzt, bevor er vor den Nazis in letzter Minute ermordet wird, buchstabiert er in beeindruckenden Briefen vor allem an den Freund und Schüler Eberhard Bethge durch, was dieser Glaube konkret bedeutet, und entwickelt daraus Ansätze zu einer Theologie, die er nicht mehr wird ausführen können. Er fragt, "was das Christentum oder auch wer Christus heute für uns eigentlich ist" – die Zuversicht und Aufrichtigkeit, die aus jeder seiner Zeilen sprechen, ist einem jeden von uns auch heute noch zu wünschen.

Ich möchte von Gott nicht an den Grenzen, sondern in der Mitte, nicht in den Schwächen, sondern in der Kraft, nicht also bei Tod und Schuld, sondern im Leben und im Guten des Menschen sprechen. ... Die Kirche steht nicht dort, wo das menschliche Vermögen versagt, an den Grenzen, sondern mitten im Dorf.

Die Kirche im Dorf

"Damit die Kirche im Dorf bleibt" – dieses Ziel las ich gerade heute in Bezug auf die Strukturreform der Evangelischen Landeskirche in Sachsen. Bei der Zusammenlegung und Vergrößerung der Kirchgemeinden wird die größte Herausforderung darin bestehen, im Alltag der Menschen vor Ort weiterhin eine relevante Rolle zu spielen. Um es optimistisch zu formulieren. Bei dieser Diskussion könnte Bonhoeffer als Ratgeber und Unruhestifter eine wertvolle Hilfe sein.

Eben kein Christentum als repräsentative, identitätsstiftende Veranstaltung für Feiertage. Eben kein Privatbesitz an Gott, den man für das eigene Seelenheil in Besitz nimmt. Eben nicht die Kirche als Friedhof für die letzten Fragen – sondern als aktive, Gemeinschaft einfordernde, Gesellschaft gestaltende Kraft. Jetzt, 75 Jahre nach Bonhoeffer und fast 30 nach der "friedlichen Revolution" in der DDR, wo so etwas vielleicht letztmalig erfahrbar wurde, erscheint mir das geradewegs utopisch. Dabei macht es sich Bonhoeffer nicht leicht:

Gott als moralische, politische, naturwissenschaftliche Arbeitshypothese ist abgeschafft, überwunden.

"Wo behält nun Gott noch Raum?"

Bonhoeffer arbeitet an einer "weltlichen Interpretation" der Bibel, die er leider nicht mehr auszuführen vermag. Im Unterschied zur "Religiosität" besteht der christliche Glauben nicht in einem Warten auf einen "deux ex machina", nicht in der Erwartung einer göttlichen Macht.

Christsein heißt nicht in einer bestimmten Weise religiös zu sein, auf Grund irgendeiner Methodik etwas aus sich machen (...), sondern es heißt Menschsein, nicht einen Menschentypus, sondern den Menschen schafft Christus in uns. ... Jesus ruft nicht zu einer neuen Religion, sondern zum Leben.

So entsteht in den letzten Briefen aus dem Sommer 1944 die Skizze einer "tiefen Diesseitigkeit des Christentums":

Wenn man völlig darauf verzichtet hat, aus sich selbst etwas zu machen – sei es einen Heiligen oder einen bekehrten Sünder oder einen Kirchenmann, einen Gerechten oder einen Ungerechten, einen Kranken oder einen Gesunden – und dies nenne ich Diesseitigkeit, nämlich in der Fülle der Aufgaben, Fragen, Erfolge und Mißerfolge, Erfahrungen und Ratlosigkeiten leben, – dann wirft man sich Gott ganz in die Arme, dann nimmt man nicht mehr die eigenen Leiden, sondern das Leiden Gottes in der Welt ernst, dann wacht man mit Christus in Gethsemane, und ich denke, das ist Glaube ... und so wird man ein Mensch, ein Christ.

Uneingeholte Gedanken, die gerade heute so wichtig sind. Das Kreuz, Symbol der Niederlage und des Leidens, mag zu diesen Gedanken führen, doch eine Symbol- und Identitätspolitik auf seiner Basis ist der falsche Weg, um das "christliche Abendland" in eine lebenswerte Zukunft zu retten. "Die Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist," so Bonhoeffer.

Und wer bitte schön ist dieser Andere, unser Nächster?