Herztöne

Das Hören und Schreiben ist für mich eine Art des Betens,

schreibt Martin Schleske im Vorwort zu seinem zweiten Buch: "Ich kämpfe mit der Wahrheit. Meine Texte sind Übungen des hörenden Herzens." Das ist Selbstcharakterisierung, Ansage und Drohung zugleich. Denn die Suchbewegung auf den folgenden 350 Seiten fordert dem Leser einiges ab.

Metanoia!

Vor lauter Lauschen und Staunen sei still,

darf Rainer Maria Rilke den Nachfolger von Schleske's Erzähl-Debüt Der Klang eröffnen. Das Buch war ein großes Wandeln auf Gleichnissen zwischen Geigenbauwerkstatt und christlichem Glauben. Ein Buch fürs Leben.

Doch scheinbar hat das dem auf theologischen Pfaden wandelnden Geigenbaumeister Schleske nicht genügt, scheinbar war noch mehr zu sagen und zu schreiben, und so entstand – wieder angereichert um stimmungsvolle Fotos von Donata Wenders und eigene Holzschnitten – dieser zweite Band, der ganz anders ausfällt, sperriger irgendwie, persönlicher auch.

Ich las das Buch innerhalb eines Jahres zweimal.

Im ersten Durchgang verlor ich mitunter die Orientierung in den teils sehr langen Kapiteln, verlor manchmal die Geduld mit dem sehr mitteilsamen Autor, der zugespitzte und durchaus auch befremdliche Formulierungen nicht scheuet.

Doch vielleicht ist Herztöne auch kein Buch zum kontinuierlichen Durchlesen. Bei der zweiten Begegnung sprachen mich unvermittelt einzelne Absätze, vorher übersehene Gedanken an, entdeckte ich – gerade inmitten des eigenen turbulenten Alltags – eine heilsame Stille in den Zeilen Schleskes, die sich schon während kurzer Leseeinheiten weitete, Glück, Freude und nicht selten auch Herausforderungen schenkte.

Dabei setzt Martin Schleske mitten im Alltag ein: mit der Abgestumpftheit und Ausgebranntheit, die mir zumindest sehr bekannt vorkommt, gegen die ich mich oft bis aufs Aussichtloseste wehre. Dabei ist die Abstumpfung im und durchs Leben laut Schleske notwendig – ein Zeichen, dass wir leben und lieben: wir verbrauchen uns. Umso wichtiger sei es, sich wieder schärfen zu lassen.

Still werden, leer werden, sich stimmen lassen, sich schärfen lassen – es meint alles dasselbe.

Es geht um die heilsame Kraft der Unterbrechung. Um die Möglichkeit der Umkehr. Um Buße. Schleske gelingt es immer wieder, alten "verdreschten" Begriffen (Silja Walter) neues, konkretes Leben einzuhauchen. Buße oder Umkehr (metanoia) als Möglichkeit, durch den Glauben, durch Vergebung und Barmherzigkeit Zukunft zu ermöglichen, "in Ordnung zu kommen": Schleske packt diese Möglichkeit in eindringliche, befreiende Bilder.

Herztöne lädt zu kurzen, heilsamen Unterbrechungen ein: Lausche auf den Klang des Lebens.

Inspiration!

Für den Geigenbauer, für den Musikliebhaber, für den Mystiker ist das Ohr das Sinnesorgan schlechthin. Im Klang einer Geige lässt sich, das beschreibt Schleske letztlich immer wieder, aufs Sinnlichste der Heilige Geist erfahren. So ist ihm Musik letztlich "in Klang gegossenes Gebet."

Die Tänzerin. Holzschnitt von Martin Schleske

Im Hören entfaltet sich ein Wechselspiel mit Gott, ein Absehen vom Eigenen, die Hinwendung zum Leben, die Schleske immer wieder in das Bild der Resonanz packt. Wie eine Saite den Ton im Wechselspiel mit dem Korpus des Instruments zum Klingen bringt, wie der Musiker das Instrument spielt, so wird Gotteserkenntnis und Gottes Liebe in dieser Welt möglich durch – uns.

Im längsten Kapitel des Buches wendet sich Schleske den Möglichkeiten menschlicher Erkenntnis zu. Neben Ratio, Empirie und Intuition nimmt dabei die Inspiration den größten Raum ein:

Mit dem Herzen zu hören und zu sehen, ist keine Technik, die man erlernen kann, sondern eine Gnade, die in unserem Leben wirksam wird.

Höre, so sagt Schleske unentwegt.

Entdecke die Stille. Lerne Vertrauen. Finde die Quellen deiner Freude und deiner Liebe. Werde heil. Immer wieder hallt das Echo von Rilkes dem Buch vorangestellten Gedicht durch die Zeilen:

Und wenn dir einmal das Schweigen sprach,
lass deine Sinne besiegen.
Jedem Hauche gib dich, gib nach,
er wird dich lieben und wiegen.

Lausche auf den Klang des Lebens. Lass dich ein. Und lass dich los. "Die ganze Schule des Lebens besteht darin, unsere Angst zu überwinden." Es sind solche Sätze, an denen ich hänge bleibe. Die tiefer und tiefer gehen mit jedem Lesen.

Manchmal reicht jener kurze Blick zum Himmel und ein inneres Seufzen, dass Gottes Wille geschieht. Wage, dir vorzustellen, dass du nicht nur ein denkender und fühlender, sondern auch ein empfangender Mensch bist. Denn dein Herz macht dich nicht nur zu einem intellektuellen, sondern auch zu einem inspirierbaren Wesen. Dein Herz ist ein leidenschaftliches Organ, seine Abgründigkeit ist ein schwarzes Loch und seine Möglichkeit hell wie der Morgenstern. Lass dich erleuchten.

Du erahnst etwas, was über dich hinausgeht. Du erkennst eine Weisheit, die du nicht zu denken vermagst. Du lieferst dich aus, bist erkannt, gibst dich hin. Es geht um: Liebe.

Liebe!

Du kannst kein erfülltes Leben haben, wenn du dich nicht fragst, was sich durch dich erfüllen soll.

Um dem Verhältnis zwischen Gott und uns nachzugehen, mutet Martin Schleske dem Leser so einige Tiefengrabungen zu – und auch manche persönlichen Geschichten, die in ihrem Bekenntnischarakter eher befremden. Die Texte sind weniger systematisch als assoziativ gebaut, sie tragen Spuren jener Suchbewegung, von der Schleske zu Beginn spricht. Immer wieder tun sich überraschende Lesarten der biblischen Texte auf. Immer wieder dringt die eigene Lebenssituation zwischen die Zeilen. Und immer tiefer gräbt sich Schleske hin zu dem stillen und doch so bewegenden Kern seines Buches: der Liebe zu Gott und der Liebe Gottes.

Mein Glaube ist keine Quelle der Sicherheit, er ist eine Gott zugewandte, fragende Liebe.

Der Glaube als öffnende, herausreißende, zuwendende Kraft:

für mich der Kern des christlichen Glaubens wie jeder Spiritualität. Schleske beschreibt dies mit dem Bild eines "Gewebes der Segnungen":

Wir leben anders, und alles ist verändert, wenn wir das eine Leben begreifen, das wir gemeinsam bilden und sind.

Und genau hier formuliert Martin Schleske ein Bild Gottes, mit dem ich nicht zu Ende komme (Gott! sei dank!):

Ich bin, wo ich mich hingebe, wo ich in die Welt hinein wirke, segnend, liebend, sich verausgabend, abstumpfend (siehe oben). Durch mich kommt auf diese Weise Gott in die Welt. Ich – als Gottesermöglicher? Oder auch: "Glauben heißt erlauben." Erlauben, dass Gott existiert, inmitten der Welt.

Wunder? Sind ein "Experiment der Liebe".

Der Glaube ist ein Leben in ungeschützter Offenheit für Gott. Der Glaube ist die Kunst, das Unmögliche möglich zu machen: Er ist das Geheimnis des Vertrauens, das erstaunliche Dinge möglich macht. ... Erhebe dein Haupt, richte dich auf, sei ein Mensch, der den Sinn seines Daseins wirksam macht: das Wechselspiel mit Gott. Du bist an Gott beteiligt; er gibt dir Anteil an den Dingen, die durch ihn möglich sind.

Schleske spricht von "vertikaler Lebenskunst".

Der Glaube ist "der Aufbruch in die Expedition des Unmöglichen. Er ist ein vorbehaltlos vertikal geöffnetes Leben, er ist ein Freifeldversuch des Unmöglichen".

Doch nicht Weltflucht ist das Ziel, sondern Hinwendung zum Nächsten, Empfänglichkeit für seine Nöte, Selbstpreisgabe und Tat. Im "Gewebe der Segnungen" sind wir verantwortlich dafür, dass Gottes Liebe Wirklichkeit werden kann.

Du schützt deinen Glauben nicht dadurch, dass du recht behältst, sondern dadurch, dass du ein Liebender bleibst.

Der Glaube ist für Schleske "nichts anderes als die liebende Bereitschaft, mit dem Himmel zu kooperieren". Allein die liebende Seele bringt Gott in dieser Welt hervor. Lausche auf den Klang des Lebens – und dann stimme ein, singe mit, werde selbst zum Klang, als Antwort auf das Gehörte. So entsteht Schönheit, entsteht Sinn. Noch einmal Rilke:

Und dann, meine Seele, sei weit, sei weit,
dass dir das Leben gelinge,
breite dich wie ein Feierkleid
über die sinnenden Dinge.

"Es gibt eine Art des Denkens, das kein Nachdenken über Gott ist, sondern viel eher ein Nachdenken mit Gott", schreibt Martin Schleske. Sein Buch ist ein herausforderndes Protokoll dieses Zwiegesprächs, das, sobald man es aufschlägt, in die Tiefe, in die Stille führt. Das ist nicht immer bequem, aber immer ein Geschenk.

Martin Schleske: Herztöne. Lauschen auf den Klang des Lebens. Adeo Verlag 2016