Das Buch der Fragen

1

"Warum sieht man die Jumbojets denn nie
mit ihren Kindern wandern?"

Die erste Zeile im Buch der Fragen. 74 Gedichte, in den Pablo Neruda nur auf den ersten Blick wahllos Fragen aneinanderreiht. Ganz assoziativ hüpft er von Fragezeichen zu Fragezeichen durch die Welt. Die Poesie, so scheint er zu sagen, entsteht dort, wo du die Wirklichkeit beim Wort nimmst, ganz wie ein Kind: ohne Konzept, ohne Theorie, ohne Scheuklappen, dafür voller Neugierde und Lust darauf, Verbindungen zu stiften. Nur wir "Erwachsene" sehen die Dinge als getrennt.

2

"Geht uns das Gelb zur Neige,
woraus nur backen wir Brot?"

Pablo Neruda – war das nicht der mit der Friedenstaube? Nein, das war Picasso. Aber Neruda war in den sozialistischen Ländern tatsächlich so etwas wie ein Nationaldichter (und in der Erinnerung ähnlich präsent wie die Friedenstaube). Linientreu – oder vereinnahmt? Es fällt mir zunächst schwer, die ideologischen Verstrickungen des Nobelpreisträgers auszublenden, wenn ich diese Gedichte lese. Gedichte, die von den Grundelementen des Lebens erzählen, eine sinnliche Feier der Elemente, aus denen wir sind: Farben, Gerüche, Großaufnahmen im Zweizeilerformat. Nein, unpolitisch ist auch das nicht. Oder wovon lebst du?

3

"Wieviele Kirchen hat der Himmel?"

Die Sprengkraft der Poesie liegt darin, keine Grenzen zu kennen (oder zuzulassen). Das scheinbar Unzusammenhängende wird verbunden, das oder der oder die Kleinste wird ganz groß – und das Große, das scheinbar Unverrückbare kann klein, gar lächerlich werden. Findet sich das nicht auch in der Bibel? Ganz in ihrer Tradition ver-rückt Neruda die irdischen Verhältnisse und stiftet respektlos eine neue Un-Ordnung. Hier hat alles und jeder eine Stimme – und ein Recht auf Leben sowieso. "Ob Rauch wohl mit den Wolken schwätzt?"

4

"Wieviele Bienen hat der Tag?"

Keine Poesie ohne Neugier. Das Buch der Fragen sucht das Wirkliche in der Welt, durch und hinter dem Sichtbaren. Dass das nie kitschig, immer verblüffend gerät, liegt vielleicht daran, dass Neruda auch weiß: Keine Poesie ohne Melancholie. Die leise Ahnung von der Vergeblichkeit und Vergänglichkeit – auch sie durchzieht diese Zeilen.

5

"Warum schreibt man in finstrer Zeit
mit unsichtbarer Tinte?"

Diese Fragen sind, gepackt in ein schmales, von Maria Guitart illustriertes Büchlein, ein Journal, ein Tagebuch. Und so führen die Gedichte Nerudas in alle Ecken, alle Tiefen und Höhen seiner und irgendwie auch unserer Tage. Die Natur ist allgegenwärtig, Tiere, Pflanzen, der Himmel, die Flüsse – doch ebenso schlagen sich Krieg und Leid nieder, zeugen die Gedichte von den politischen Spannungen in Südamerika und den schweren Erfahrungen des Dichters.

Pablo Neruda: Das Buch der Fragen. Gedichte. Mit Illustrationen von Maria Guitart. Luchterhand 2022

6

"War's da, wo andre mich verloren
wo ich mich schließlich selber fand?"

Schließlich noch zeigt sich in diesem Sammelsurium von Fragen das Unideologische, das im Fragen an sich steckt: nicht instrumentalisierbar, nicht verwertbar ist, was der Dichter in diesem Refugium für sich behält. Da spricht kein Standpunkt, weiß Nichts Genaues, da ist purer Anfang, bloßes Aufbegehren, alles stellt sich quer den Erwartungen. Und wie war das: Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne?